930. Des Fremdlings Fluch.

[792] (S. Wolf a.a.O. S. 133.)


Auf dem sogenannten Trieb bei Gießen, rechts von der Straße nach Grünberg, sah man noch vor 40 Jahren eine Fläche von vielen Morgen, die mit Eichen bepflanzt war, aber was wunderbar daran war, die Bäume hatten alle keine rechte Kraft, keinen frischen Saft und ihre Gipfel starrten dürr, das kam von einem Fluch, der auf ihnen lag.

Vor vielen hundert Jahren kam nämlich ein fremder Mann einmal nach Gießen, der weinend und wehklagend seine Kinder und sein Weib suchte. Es muß damals ein böser Rath in der Stadt Gießen gewesen sein, denn statt dem Mann beizustehen, wurde er beschuldigt, er habe Weib und Kind umgebracht und als er es leugnete und seine Unschuld betheuerte, auf die Folter gespannt. Der Qual los zu werden, gestand er, was er nie gethan hatte, und wurde sofort auf den Richtplatz hinausgeführt. Bevor ihm dort die Augen verbunden waren, betheuerte er abermals seine Unschuld, indem er sprach: »Und das zum Zeichen werdet Ihr diese Eichbäume gipfeldürr werden sehen von heute an; daraus möget Ihr sehen und mir glauben lernen, daß Ihr unschuldig Blut vergossen habt.« So starb er und wurde unter dem Galgen begraben. Wenige Tage nachher bewährte sich des Mannes Unschuld auf eine erschütternde Weise, denn die von ihm gesuchte Frau kam jetzt mit ihren Kindern um den Vater aufzusuchen. Da ward große Trauer in der Stadt, dem Hingerichteten gab man sogleich ein ehrlich Begräbniß, der Frau und ihren Kindern aber das Bürgerrecht. Damit war die That jedoch nicht gesühnt, denn als es Frühling ward, da schlugen alle Bäume in und um Gießen aus, nur die Eichen kränkelten und manche starben selbst ab, und wie viele man auch nachpflanzte, nicht eine gedieh. So schwer lastete der Fluch auf der Stelle.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 792.
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