1070. Der graue Mann.

[873] (S. Vaterländ. Archiv Bd. II. S. 251 etc.)


Ein heller Wintermittag lockte vor vielen Jahren zwei junge Frauenzimmer, die bei ihrer kranken Freundin, einer Conventualin im Kloster Borsinghausen zum Besuch sich aufhielten, zum Spaziergange ins Freie. Sie wählten den Weg nach Egestorf und auf dem schmalen Fußpfade, der durch den dicht liegenden Schnee allein gebahnt war, berührte ihr Gespräch mancherlei Gegenstände der Unterhaltung. Die eine Freundin sieht aufblickend in mäßiger Entfernung einen in einen grauen, langen Mantel gehüllten Mann vor ihnen hergehen und macht ihre Begleiterin auf diesen aufmerksam, die ihre halb scherzend, halb befremdet ausgesprochene Bemerkung mit ihr theilt, wie sie den ihnen so nahen Wanderer nicht schon früher wahrgenommen, da ihr scharfes Auge doch in dem dichten Schnee zu den Seiten des vor ihnen liegenden Weges[873] keine einlenkende Spur auffinden kann, jener mithin den durchaus ebenen Pfad schon zuvor gegangen sein muß. Der graue Mann bleibt noch einige Schritte in gleicher Weise vor ihnen, wendet sich dann aber zur Seite des Weges nach einem, mit wenigem in dieser Jahreszeit entblätterten Gestrüpp bewachsenen niedrigen Hügel zu, hinter welchem er verschwindet. Die Freundinnen, ihr Gespräch fortsetzend, beachten dieses nicht, bis sie zu der Stelle des Pfades, von welchem ab der Vorgänger, zur Seite abgebogen, angelangt, mit Staunen vergebens die Spur eines Fußtrittes in dem hohen Schnee aufzusuchen sich bemühen. Auch um den niedrigen Hügel, den sie von ihrem jetzigen Standpunkt auf allen Seiten betrachten können, zeigt sich kein Fußtritt. Neugier und Aengstlichkeit läßt sie selbst nach dem Hügel gehn, aber keine Spur, daß ein lebendiges Wesen hier gewandelt, ist auf der glatten Schneefläche aufzufinden. Da treibt mächtiger Schrecken über den seltsamen Wanderer die Bestürzten zurück.

Noch jetzt sehen einzelne Kirchgänger den grauen Mann zuweilen in kurzer Weite vor sich hergehen und spurlos und unerklärlich verschwinden. Man sagt, daß es der Geist eines Menschen sei, der in dieser Gegend ein schweres unentdecktes Verbrechen beging, und er kann nicht eher zur Ruhe kommen, bis das Verborgene an den Tag gebracht, und aus Mitleid mit der ruhelosen Seele durch fromme Geschenke an die Armen seine That versöhnt wird.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 873-874.
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