1099. Die Hildesheimer Jungfer.

[894] (Nach Seifart Th. II. S. 3 etc. u. Müller u. Schambach, Niedersächs. Sagen S. 18 etc.)


Auf den Hildesheimischen Fahnen und Stadtwappen steht die Hildesheimische Jungfer (in roth und gelb gekleidet, den Hildesheimischen Stadtfarben) mit einem Kranze in der Hand. Ueber die Entstehung dieses Wappens erzählt man aber folgende Sage. Es lebte einst zu Hildesheim ein schönes und reiches Edelfräulein, um welches viele Grafen und Ritter der ganzen Nachbarschaft freiten. Indessen holten sich die Meisten Körbe, denn das Fräulein hatte sich heimlich mit einem jungen Ritter, der der Dienstmann eines benachbarten Fürsten war, verlobt. Allein dieser Letztere sollte von diesem heimlichen Verlöbniß nichts erfahren, und deshalb pflegten die beiden Liebenden sich zuweilen in dem großen Hildesheimer Walde zu treffen, der damals noch bis an die Stadt ging. Eines Tages ging das Fräulein auch zu einer solchen Zusammenkunft hinaus in den Wald und suchte die große Linde auf,[894] wo ihr Geliebter gewöhnlich auf sie zu warten pflegte. Allein kaum war sie an der Grenze des Holzes angelangt, so zog ein schweres Gewitter herauf, sie eilte so schnell als möglich nach dem Baume zu, aber als sie endlich dort anlangte, da lag ihr Bräutigam leblos auf dem grünen feuchten Moose am Fuße des Baumes, der Blitz hatte ihn erschlagen. Da wußte das arme Mädchen vor Verzweiflung nicht, was sie thun sollte, sie zerraufte ihr Haar, weinte und schrie und lief blindlings und ohne Nachdenken immer tiefer hinein in das Dickicht. So mochte sie einen ganzen Tag in der Irre herumgelaufen sein, als sie endlich ermattet unter einem wilden Rosenstrauche niedersank und einschlief. Da erschien ihr im Traume die h. Jungfrau und sprach ihr Trost zu. Gestärkt erwachte sie und suchte nun den Rückweg nach ihrer Vaterstadt, allein sie fand sich in einer vollständig fremden Gegend und sah weder Weg noch Steg. Da fiel sie nieder auf die Kniee und betete zur h. Jungfrau und gelobte all ihr Hab' und Gut der Kirche zu schenken, sofern ihr die h. Jungfrau wieder auf den rechten Weg helfe. Kaum hatte sie dieses Gelübde gethan, als sie in weiter Ferne eine Glocke hörte, die rief ihr zu: »Kehre wieder! kehre wieder! kehre wieder!« Da lief die Jungfer, Gott dankend, den heiligen Klängen entgegen und je weiter sie vorwärts drang, desto deutlicher hörte sie die Glocke, bis sie aus dem dunkeln Wald kam und die schönen Felder und Gärten der Stadt zu ihren Füßen lagen. Da war es gerade acht Uhr Abends, doch das Fräulein mochte mehrere Tage im Walde herumgelaufen sein.

Die so wunderbar gerettete Jungfrau hielt nun pünktlich, was sie gelobt hatte. Sie beschenkte Kirchen und Klöster reichlich, vor Allem aber bedachte sie ihre liebe Vaterstadt und schenkte den Bürgern den ganzen Hildesheimer Wald, der ihnen, obwohl durch die viele Nutzung jetzt auf einige waldige Hügel zusammengeschrumpft, noch heute unentgeldlich Holz für den Winter liefert. Der Festungsthurm, auf dem die rettende Abendglocke hing, heißt seitdem und bis auf den heutigen Tag der »Kehre wieder!« Die Glocke selbst ward aber geweiht und in dem St. Lamberti-Kirchthurm aufgehängt. Damit nun die Glocke künftig auch andern verirrten Wanderern recht von Nutzen sein könne, so machte es die Jungfer fest, daß sie in den kurzen Tagen von Michaelis bis Ostern eine ganze Stunde und zwar Abends von 8 bis 9 Uhr geläutet werden solle. Auch machte sie ein Vermächtniß, laut welchem dem Läuter jährlich ein Paar Schuhe und ein Thaler bezahlt wird; und so ist es geblieben bis auf den heutigen Tag. Als in dem ersten Zehntel dieses Jahrhunderts von der westphälischen Regierung die Stifter und Klöster aufgehoben und überhaupt alle Stiftungen nicht mehr geachtet wurden, da hörte auch das Läuten mit der Jungfer-Glocke auf, allein von dem Augenblicke an fing dafür der Geist der zürnenden Jungfer in der Lambertikirche zu spuken; wenn der damalige Läuter auf den Thurm ging, bekam er rechts und links von unsichtbaren Händen Ohrfeigen und dies dauerte so lange, bis die alte Bestimmung wieder hergestellt wurde. Es soll aber die Jungfrau noch eine zweite silberne Glocke zum Andenken an ihre Rettung haben gießen lassen, welche in der Michaeliskirche hing, als aber im Jahre 1803 die Preußen in das Stift kamen, da haben sie letztere heruntergenommen und die kleinen Silbermünzen, welche das Volk Stiefelknechte nannte, daraus schlagen lassen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 894-895.
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