1113. Zwergsloch.

[900] (S. Seifart Bd. II. S. 54. I. S. 30.)


Wenn man an der Innerste aufwärts von Hildesheim nach Marienburg geht, findet man etwa auf der Hälfte des Weges eine Höhle, welche das Zwergsloch heißt. In diesem Loche hatten die Zwerge sonst ihre Schmiede, davon ist es auch heutigen Tages noch so schwarz, sie schmiedeten aber nichts als Gold und Silber darin, und wenn sie fleißig arbeiteten, so wuchs von der Hitze unten auf den Feldern das Korn über dem Zwergsloch so, daß es eine Pracht zu sehen war. Weil aber die Zwergenkinder immer in die Erbsen gingen und die grünen Schoten stahlen, hat der Magistrat von Hildesheim die Zwerge verjagt, man weiß aber nicht, ob sie ganz fortgezogen sind, oder sich nur tiefer in die Erde verkrochen haben. Das Zwergsloch geht nämlich ein Paar Meilen weit unter der Erde weg. Die alten Leute erzählen, es habe einen Ausgang an dem sogenannten Knebel. An einem Pfingstmorgen sind auch einmal mehrere Jungen bei diesem Knebel in die Erde gestiegen und nach langer Wanderung zum Zwergsloche wieder herausgekommen. Als sie aber aus dem dunkeln Loche in den hellen Sonnenschein traten, blickten sie sich ganz verwundert einander an, denn sie waren alte Männer mit langen, greisen Bärten geworden. Als sie nun vor die Stadt kamen, wollte sie der Thorwächter nicht einlassen, denn sie sahen ihm gar zu abgerissen aus, und als sie ihre Namen nannten und nach ihren Angehörigen fragten, sagte der Thorwächter: »Ihr scheint mir Erzvagabunden und Schelme zu sein, denn die Leute, von denen Ihr sprecht, sind längst begraben, als ich noch ein kleiner Junge war!« Da weinten die Wanderer bitterlich, kehrten wieder um und man sagt, sie sind wieder ins Zwergsloch gegangen und wohnen noch darin.

Einst kam ein Musikant, der zu einer Kindtaufe auf der Mordmühle gewesen war, spät in der Nacht mit seiner Geige am Zwergsloche vorüber. Da sah er im Mondschein an dem Brinke vor dem Zwergsloche etwas Lebendiges sitzen. Der Musikant dachte, es wäre ein Räuber und fürchtete sich sehr, er wollte aber nicht merken lassen, daß dies der Fall sei, und schrie so laut als er nur konnte: »Heda, guter Freund, woher so spät noch? wollt Ihr auch noch in die Stadt? Kommt mit, in Gesellschaft wandert es sich besser.« – »Gut, Du sollst Gesellschaft haben«, versetzte das lebendige Ding und als es der Musikant nun recht besah, da war es ein uralter Mann, nicht höher als eine Elle. Da sagte der Musikant, der da dachte, mit so einem kleinen Manne könne er leicht fertig werden: »Du Knirps, was treibst Du Dich hier noch so spät herum und machst die Leute zu fürchten, mache daß Du in Dein Loch kommst, sonst sollst Du sehen, was geschieht!« Da antwortete der Andere: »Elender Erdenwurm, was unterstehst Du Dich, jetzt sollst Du Dir das Loch selbst ansehen!« Kaum hatte der Zwerg das Wort gesprochen, so fühlte sich der Musikant auch von unsichtbaren Händen gepackt und aufgehoben, er mochte sich noch so sträuben, er mußte mit hinein in das Zwergsloch und so ging es viele Meilen mit ihm tief unter der Erde fort. Da fing er an klein zuzugeben und bat die Zwerge weh- und demüthig, sie sollten ihm doch seine Frechheit verzeihen, er sei ja doch nur ein armer Spielmann, der eine Frau und neun lebendige Kinder zu ernähren habe.[901] Der alte Zwerg versetzte: »Es ist Dein Glück, daß Du Dein Unrecht einsiehst, darum soll Dir verziehen sein, Du sollst sogar noch Gewinn haben, wenn Du von dem, was Du siehst, reinen Mund halten wirst.« Natürlich versprach der arme Kerl Alles zu thun, was die Herrn Zwerge verlangten und so kamen sie denn an ein großes Thor, vor dem ihn seine unsichtbaren Träger absetzten. Dasselbe öffnete sich und er sah sich in einer großen Halle, deren Wände von Gold und der Fußboden von Silber war und in der der Glanz der Edelsteine, welche von der Decke herunterglänzten, das Licht von tausend Kerzen vertrat. Die Hatte schien aber ganz leer, er sah Niemanden als den alten Zwerg darin. Dieser aber hieß ihn nach einem Throne, welcher am Ende der Halle stand, hingehen und dort seine besten Stücke aufspielen. Dies that er auch, er spielte einen Tanz nach dem andern, er hörte auch, wie in die Hände geklatscht wurde und wie unsichtbare Füße in der Halle herumtrampelten, aber er sah keinen Tänzer. Da faßte er sich Muth und sagte zu dem alten Zwerg, »ob er denn nicht einmal die Herren und Damen sehen könne, welchen er aufspielen müsse?« – »O ja«, antwortete dieser, »das will ich schon möglich machen, setze einmal meinen Hut auf!« Kaum hatte er aber den großen runden Hut auf den Kopf gesetzt, als er Tausende von ellenlangen geputzten Männchen und Weibchen erblickte, darunter Kinder nicht größer als sein Daum. Die kamen nun alle lachend und in die Hände klatschend auf ihn los, sprangen ihm auf den Nacken, zupften ihn bei den Ohren und bei der Nase und schleppten ihn unter großem Gelächter im Saal herum. Der Musikant lachte mit und jubelte, vorzüglich als man ihn an eine gedeckte Tafel führte, auf welcher Braten und Kuchen, Aepfel, Birnen und Nüsse in goldenen Schalen standen. Die Braten und Fische waren aber alle sehr winzig, so lag z.B. ein ganzer gebratener Ochse in einer Schüssel, der war aber nicht größer als ein Lamm. Nur die Weinflaschen und das Obst hatten die gewöhnliche Größe, denn Wein und Obst haben die Zwerge nicht selbst, sondern stehlen es erst den Menschen. Der Musikant machte sich nun sofort an die Speisen und die Zwerge wunderten sich nicht schlecht, als dieselben schnell unter seinen gierigen Zähnen verschwanden, dazu schenkten sie ihm tüchtig Wein ein und der alte Zwerg hieß ihm sich die Taschen voll Aepfel und Nüsse stecken und half ihm selbst die Taschen füllen. Schließlich aber wurden ihm die Beine und Zunge schwer und als die Zwerge mit ihm tanzen wollten, fiel er um. Mühsam richtete er sich wieder auf, es war Morgen, die Sonne schien, er aber war nicht mehr in dem gold- und silberstrahlenden Saale, sondern er sah weiter nichts als den grünen von Steinen übersäeten Brink, auf welchem er vor dem Zwergsloche saß, und zu seinen Füßen die Innerste mit ihren grünen Wiesen. Vor ihm aber stand ein Schäfer mit einer großen Heerde, der hatte ihn mit dem Fuße angestoßen und aus dem Schlafe geweckt. Der Schäfer aber, der ihn spöttisch fragte, wie er hierher komme und warum er an diesem kalten Orte die Nacht zugebracht habe, trug die Gesichtszüge des alten Zwerges. Es lief dem armen Musikanten eiskalt über dem Rücken, als derselbe ihm die Hand zum Morgengruß hinhielt, allein er wagte nicht, sie ihm zu verweigern, eilte aber dann, so schnell er konnte, seiner Heimath zu. Da fühlte er sich im Laufen durch etwas gehindert, was sich wie eine schwere Last an ihn hing, es waren seine Rocktaschen, deren Inhalt ihn zur Erde zog, er griff hinein und siehe, die[902] Aepfel und Birnen, welche er sich hineingesteckt zu haben erinnerte, waren zu Klumpen Gold geworden und nun strengte er sich erst recht an, so schnell wie möglich nach der Stadt zu kommen. Als er an dem Thor anlangte, war er so überglücklich, daß er gänzlich vergaß, daß er den Zwergen unverbrüchliches Schweigen über Alles, was er gesehen, angelobt hatte. Er hatte nichts Eiligeres zu thun, als den Thorschreiber von seinem Glück in Kenntniß zu setzen, und als er in die Taschen griff um ihm die goldenen Schätze, die er mitgebracht habe, zum Beweis der Wahrheit seiner Erzählung zu zeigen, zog er leider nur eine Hand voll ganz verschrumpfter und halb fauler Aepfel heraus und sah, daß er durch sein vorzeitiges Geschwätz selbst sein Glück wieder vernichtet hatte.

Man sagt übrigens, daß man noch heute zur Mittagsstunde einen Schäfer seine Heerde vom Zwergsloche nach der sogenannten Kerbe und von da wieder nach dem sogenannten Zwergsloche treiben sieht. Wenn es Eins schlägt, sind Schäfer und Schafe verschwunden. Das soll der Zwergkönig mit seinen Unterthanen sein, die er täglich einmal an die Sonne führt. Jetzt soll aber in dieser Kerbe der vom Kehrewieder weggebannte Hüne Schaper, auch Schaperjohann genannt, sitzen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 900-903.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Sagenbuch des Preußischen Staats
Sagenbuch des Preußischen Staats: Erster Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Zweiter Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Erster Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Zweiter Band

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Bozena

Bozena

Die schöne Böhmin Bozena steht als Magd in den Diensten eines wohlhabenden Weinhändlers und kümmert sich um dessen Tochter Rosa. Eine kleine Verfehlung hat tragische Folgen, die Bozena erhobenen Hauptes trägt.

162 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon