1194. Der letzte Sichelstein.

[967] (S. Gottschalck, Ritterb. Bd. IX. S. 101 etc.)


Zwischen Kassel und Minden, westlich von dem Dorfe Landwehrhagen im ehemaligen Königreich Hannover, liegen die Ueberbleibsel der alten Burg Sichelstein auf einem niedrigen Hügel, ganz in der Form eines Hufeisens gebaut, dessen Bogen gegen Norden und dessen gerade Linie gen Süden zeigt. Ob nun wohl die hessischen und braunschweigischen Chronisten erzählen, Herzog Otto der Quade von Braunschweig habe der hessischen Grenze gegenüber eine Burg erbaut, um aus dieser seinem Feinde, dem Landgrafen von Hessen, möglichst zu schaden und sie, ihren Zweck anzudeuten, Sichelstein genannt, worauf der Landgraf ihm zum Trotz eine zweite Burg habe aufführen lassen und ebenfalls durch ihren Namen habe andeuten wollen, daß er mehr mit ihr, als der Herzog mit jener, auszurichten gedenke, und sie darum Sensenstein genannt habe, so ist es doch sicher, daß dieser Burg schon im 12. Jhdt. Erwähnung geschieht. Der letzte Besitzer des Sichelstein, der den Namen der Burg führte, war Bardo von Sichelstein, ein jähzorniger Mann. Dieser hatte Kunigunde, die Tochter Hermanns von Ziegenburg zur Frau. Als diese einst im hochschwangern Zustande in ihrer Kemnate auf den Knieen lag und betete, stürzte ihr Gatte von Eifersucht verführt herein und ermordete sie. Als sie aber auf die Bahre gelegt ward, hat sie so stark angefangen zu bluten, daß das Blut nicht genug vom Boden geschöpft werden konnte und Alt und Jung darüber in das größte Staunen gerieth. Um Rache für diesen Frevel zu erlangen, ist der Ermordeten Bruder, Heimbert von Ziegenburg, nach Fulda geritten, wo der Kaiser eben eine Fürstenversammlung hielt und hat Letzterem die Blutthat erzählt, der Kaiser aber befahl, Bardo am Leben zu strafen und der Bischof von Mainz that ihn in den Bann. Am andern Tage hat er sein Urtheil dahin gemildert,[967] daß Bardo der Abtei Corvei zehn Mark fein Silber zahlen und bis zu seinem Tode in einem Gefängnisse derselben auf seine eigene Kosten sitzen solle. Auch hat er ihm sein goldnes Wappenschild mit der weißen Marmorsäule und der silbernen Sichel genommen, und hat ihm statt dessen ein blutrothes gegeben. Dies ist im Jahre 1189 geschehen; Bardo ist zwar in einem finstern Gewölbe des Klosters vermauert, aber 1192 wieder in Freiheit gesetzt worden und hat dann noch 47 Jahre, gesondert von aller menschlichen Gemeinschaft, auf seinem Schlosse Sichelstein bis zu seinem 1239 erfolgten Tode gelebt.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 967-968.
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