1313. Marienstede.

[1060] (Nach H. Smidt, Schleswig-Holstein. Frankfurt a.M. 1847 Bd. II. S. 224 etc.)


Zu Marienstede im Lauenburgischen erhob sich vor vielen, vielen Jahren unter drei hohen Eichbäumen eine Kapelle, in welcher sich ein Bild der Mutter Gottes befand. Von diesem Bilde strömte Segen auf Alles, was sich rings um die Kapelle befand, denn es grünte und blühte dort herrlicher als irgendwo, die Früchte an den Bäumen waren größer und saftreicher, die Garben voller, der Wiesenwachs gesegneter. Unfern der Kapelle entsprang aber eine Quelle, deren Wasser so heilbringend war, daß Jeder, der von demselben trank, zur Stelle von dem Uebel, womit er behaftet war, genas und fröhlich von dannen ging. Darum war auch die Straße, die zur Kapelle führte, stets mit Preßhaften aller Art bedeckt, die Heilung an der Segensquelle suchten, und Keiner von Allen ging ungetröstet hinweg, es sei denn, er wäre ein so arger Sünder gewesen, daß er voll Unglaube und gleichsam nur zum Spott von dem heilsamen Wasser geschöpft hätte.

Nun lag hart an der Landstraße, die zu der Kapelle mit dem Wunderquell führte, ein adeliger Hof und auf demselben regierte, in Abwesenheit des Herrn, ein Verwalter, ein harter, böser Mann, übermüthig nach unten und kriechend nach oben. Derselbe machte sich namentlich ein Vergnügen daraus, die nach der Quelle ziehenden Kranken nicht blos zu verhöhnen, sondern ihnen auch noch für die Abnutzung des Weges einen Schilling Wegezoll abzudrücken. Nun trug es sich aber zu, daß sein abwesender Herr ihm durch einen Knecht ein Pferd schickte, welches sich den Fuß verletzt hatte, um es zu heilen. Da unterstand sich der Verwalter, dasselbe nach der Quelle zu führen und als ihm sein alter Vater in den Arm fiel, um ihn von diesem Frevel abzuhalten, verging er sich soweit, den Greis mit der Peitsche zu schlagen, so daß derselbe zu Boden fiel, aber noch Kraft hatte, ihm seinen Fluch nachzurufen. Der gottlose Mensch aber zog lachend und pfeifend von dannen zu dem wunderthätigen Brunnen und ließ das Pferd von dessen klarer Silberfluth trinken, so viel es mochte. Aber von der Stunde an, wo der Frevel geschah, wich von ihm der Uebermuth und die Kraft seiner Glieder, er ward niedergeschlagen und begann zu siechen. Er wußte zuletzt in seiner Verzweiflung nichts Anderes, als daß er selbst nach der Marienkapelle wallfahrete, die er vor Kurzem so freventlich entweiht hatte. Aber für ihn hatte die Quelle jede Heilkraft verloren, im Gegentheil der Genuß des Wassers steigerte noch seine Schmerzen und er mußte einer furchtbaren Krankheit erliegen. Am Morgen nach seinem Begräbniß ging der Küster über den Kirchhof und bemerkte auf dem frisch aufgeworfenen Grabhügel etwas Weißes. Er trat neugierig näher, aber mit Schaudern wich er wieder zurück, als er eine Menschenhand bemerkte, die aus der Erde gewachsen war. In Angstschweiß gebadet eilte er zu dem Pfarrer, der ließ den Todtengräber herbeirufen und alle drei bedeckten unter frommen Gebeten die Hand neuerdings mit Erde. Aber am andern Tage war sie wieder aus der Erde emporgeschossen, denn die Hand eines Kindes, die sich frevelnd gegen Vater und Mutter erhoben, kann nicht ruhig im Grabe ruhen. Da wurde sie ausgegraben und in der Kirche an einem besondern Orte verwahrt.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 1060-1061.
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