1344. Die getreue Alte.

[1086] (S. Bechstein S. 176.)


Zu Husum sollte einst ein Winterfest gefeiert werden auf dem Eise, denn das Eis war fest. Zelte wurden aufgeschlagen auf der herrlichen blanken Fläche zwischen dem Ufer und der Insel Nordstrand, Schlittschuh lief was laufen konnte, Stuhlschlitten flogen dahin, Musik und Tanz, Lied und Becherklang verherrlichten den schönen Tag und die nahe lichthelle Mondnacht, die den Jubel noch vermehren sollte, denn schon ging der Mond auf. Alles war hinaus aufs Eis und machte sich lustig, nur ein einziges steinaltes Mütterchen war zurückgeblieben, sie hatte die Weltlust hinter sich, und wenn sie wollte, konnte sie ja hinaus und hinab aufs Eis sehen, denn ihr Häuslein stand auf dem Damme. Und sie that's, sie sah gegen Abend hinaus und sah im Westen ein Wölkchen über die Kimmung heraufziehen, da überfiel sie große Angst, denn sie war eines Schiffers Wittwe und kannte die See und die Zeichen von Wetter und Wind. Sie rief, sie winkte, aber Niemand vernahm sie, Niemand blickte nach ihr, das Wölkchen aber wuchs zusehens und war ein Bote der Fluth und schnellumspringenden Windes von Nord nach West. Und wenn die auf dem Eise nur noch eine halbe, eine Viertelstunde zögerten, so war es um sie gethan, so stand Husum menschenleer. Wie die Wolke wuchs, zusehens riesengroß, schwarz, wie sie schon den lauen Windhauch spürte, wuchs auch der Alten unsägliche Angst, und sie war allein, krank, halb gelähmt, machtlos. Dennoch ermannt sie sich, kriecht auf Händen und Füßen zum Ofen, nimmt einen Brand, zündet das Stroh ihres eigenen Bettes an und kriecht zur Thüre des Häuschens hinaus. Bald schlägt die Flamme aus dem Fenster hinauf zum Dach, des Sturmes Odem facht helllodernde Gluth an, und: »Feuer! Feuer!« schreit es auf dem Eise und die Zelte werden verlassen, die Schlittschuhläufer fliegen dem Strande zu, die Schlitten lenken sich heimwärts. Da faucht aber auch schon der Wind über die Eisfläche, da pocht's schon drunten und poltert, und wie Kanonendonner kracht das Eis in der Ferne. Die schwarze Wolke überzog den Mond und den ganzen Himmel, wie ein Leuchtthurm flammt das Haus der Wittwe und zeigt den Heimwärtseilenden die sichere Bahn. Wie aber die Letzten am Strande sind, da rollt auch die Fluth ihre Wogen über das Eis und reißt Zelte und Tonnen, Wagen und Zechgeräthe in ihre rauschenden Wirbel. So hatte die arme Alte ihr Häuschen geopfert, um die Bewohner ihrer Vaterstadt zu retten. Es wird ihr ja wohl nicht unvergolten geblieben sein.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 1086.
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