1355. Die Schwesternthürme.

[1096] (S. Bechstein, Deutsches Sagenbuch S. 184. Müllenhoff S. 116.)


In Broacker ist die Kirche mit einem Doppelthurm geziert, die Schiffer auf der See erblicken diesen Thurm zehn Meilen weit und haben an ihm ein Merkzeichen. Auf dem Schlosse daselbst haben zwei Fräulein gewohnt, die waren Zwillingsschwestern und durch Führung Gottes im Mutterleibe zusammengewachsen, die haben diesen Thurm erbauen lassen.

In Keitum klingt die Glocke, wenn sie geläutet wird, nie anders als: »Ing und Dung! Ing und Dung!« So hießen zwei Schwestern, die hatten nördlich von der Kirche ein Haus, darin sie klösterlich lebten und sie waren es, die diesen Thurm erbauen ließen. Zum Gedächtniß dieser Schwestern erhielt der Thurm zwei Spitzen von Feldsteinen, welche sie selbst vorstellen sollen. Da man den hellen und herrlichen Ton der Keitumer Glocke bei klarem Wetter sogar auf dem Lande hören konnte, so gedachten einst die Bewohner des Fleckens Hoyer sie zu stehlen. Als die Keitumer dies merkten, banden sie eine Zeit lang ein Pferdehaar um den Klöppel, da lautete es, als wenn die Glocke zersprungen wäre, und da ließen die Hoyeringer ab von ihrer List. Eine alte Sage ging, die Glocke werde einst von dem Thurme herabstürzen und den schönsten Jüngling erschlagen, und nachher werde auch, wiewohl später, der Thurm einfallen und die schönste Jungfrau unter seinen Trümmern begraben. Ersteres ist im Jahre 1739 in Erfüllung gegangen, letzteres aber noch nicht, daher kommen die Mädchen auf Sylt nicht gern dem Kirchthurme nahe und gehen nicht gern in die Kirche.[1096]

Auch im Dorfe Altenbruch an der Elbmündung in die Nordsee lebten einst zwei betagte Zwillingsschwestern und erfreuten sich der Achtung aller Bewohner; diese erbauten von ihrem Ueberflusse an irdischem Gute Thurm und Kirche und brachten ihr Leben in einträchtiger Liebe mit einander hin; da wurde der Thurm in zwei hohen, schlanken Spitzen ausgebaut und jede derselben mit einer schönen Krone geziert, und diese Spitzen bringen den Namen der frommen Jungfrauen auf die Nachwelt.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 1096-1097.
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