Zwei Harfen

[179] Durch der Seele Tiefen klingend

Weht in mir ein Harfenpaar,

Brausend tönt das Spiel der einen,

Das der andern sanft und klar;

Zwei der Kräfte, die sich hassen,

Geben ihnen Klang und Laut,

In den Saiten wettert diese,

Jene küßt sie leis' und traut.


Wie von Fels auf Felsbett stürzend

Wild der Katarakt erdröhnt,

Wie, wenn Donnerkeile rasen,

Dumpf es durch die Bergschlucht stöhnt,

Wie der Sturz der fessellosen

Schneelavin' im Thal verhallt,

Also auch die eine Harfe

Mir im Busen dröhnend schallt.
[179]

Doch wie über Rosenhaine

Zefir haucht den Morgenkuß,

Wie aus fernen, fernen Welten

Der Geliebten leiser Gruß,

Wie bei Nacht sich's still harmonisch

In Cypressenwipfeln regt,

Tönt der andern Harfe Lispeln,

Zart von milder Kraft bewegt.


Hätte doch die beiden Kräfte

Gleiches Streben hold vereint!

Unbesiegbar, unversöhnbar

Bleiben sie sich ewig feind;

Bis die letzte Sait' in Trümmer,

Jede Harf' in Staub zerbricht,

Dann befeinden sie sich nimmer,

Aber, ach – sie tönen nicht!

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 179-180.
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