Der Weidenbaum

[329] Welch ein Blühen, Duften, Quellen

In des Königs Artus Garten!

Früchte aller Zonen schwellen

Zwischen Blüthen aller Arten.


Nur am Teiche eine Weide

Steht gebeugt in stummer Klage,

Wie versenkt in tiefem Leide,

Daß sie nicht auch Früchte trage.


Die gelösten Haare fallen

Nieder ihr, ein grün Verstecke,

Dran die Kön'gin fand Gefallen

Und auch Lanzelot, der Kecke.


Auf dem Baum sitzt jetzt der König,

Im Gezweig sich wohl versteckend,

Sein gesalbtes Haupt ein wenig

Allzuweit hervor nur streckend.


Traun, das hat er fein ersonnen!

Hier will er das Paar belauschen,

Denn, so hört' er, hier am Bronnen

Pflegt es Kuß um Kuß zu tauschen.
[330]

Sieh, die Kön'gin naht der Stelle;

Doch sie sieht die Weide prangen

In dem Widerschein der Welle,

Und die seltne Frucht dran hangen.


Ha, zu ihr zu lagern wagte

Sich schon Lanzelot im Moose;

Aber schlau zum Ritter sagte

Laut Ginevra jetzt, die Lose:


»Seht die Weid' im Teiche strahlen,

Lenkt das Aug' drauf, doch genaue;

Ob euch's nennt der Blätter Zahlen?

Ob es Früchte dran erschaue?


Eher trägt wohl Frucht die Weide,

Eh' zählt ihr der Blätter Masse,

Als ich breche Lieb' und Eide,

Meinen Herrn und Gatten lasse.


Wie die Weid' auf Wellentänzen,

Ruht sein Bild in meinem Herzen,

Und ich will's mit Liebe kränzen,

Wie ihr's schirmt mit Stahl und Erzen!«


Drauf der Ritter: »Ha, wie zeigen

Wellenspiegel doch genaue,

Daß sogar ich in den Zweigen

Hoch ein nistend Vöglein schaue.


Eh' wird Mensch dieß Vöglein werden

Und in Menschenworten sprechen,

Als dem König je auf Erden

Pflicht und Treu' ich könnte brechen.
[331]

So ist unserm Bund die Weihe

Für des Königs Heil beschieden:

Schützt im Kampf ihn meine Treue,

Schmückt ihn eure Lieb' im Frieden.«


Artus nickt als wangenrother

Apfel froh aus Zweigeshallen,

Und fast vor Entzücken droht er

Ueberreif vom Baum zu fallen.


Spät im Zwielicht, müden Leibes,

Stiehlt er heimlich sich nach Hause;

Die Verleumder seines Weibes

Sperrt er tief in Thurmesklause.


Und du darfst nun nimmer klagen,

Schöne Weide, da du heute

Frucht von seltner Art getragen,

Dran sich manches Herz erfreute.

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 329-332.
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