Läuterung

[9] Wo war, wo ist, wo wird sie sein,

Die Stunde, wahrem Glück erlesen?

Sie ist nicht und sie wird nicht sein,

Denn sie ist immer nur gewesen!

Wir mäkeln viel, bis sie entrinnt,

Sie däucht uns schön, wenn wir sie missen,

Und daß wir glücklich waren, wissen

Wir erst, wenn wir es nimmer sind.


Wo ist der Mann, wann wird er kommen,

Den alle Tugendzierden adeln?

Steht er dir nah, noch so vollkommen,

Doch weißt du dieß und das zu tadeln;

Erst wenn er schied und nimmer kehrt,

Erglänzen hell dir seine Gaben,

Und eines Menschen ganzen Werth

Zu kennen, müßt ihr ihn begraben.
[9]

Was lieb dir, wird dir lieber sein,

Noch schmerzlich lieber durch die Ferne;

Blick auf! wie schlingt sie glänzend rein

Den goldnen Zauber um die Sterne!

Sie webt die blaue Schleierluft

Um des Gebirges schroffe Zinnen,

Daß eingehüllt in weichen Duft

Die Härten des Gesteins zerrinnen.


Blick nieder, wo von ihrem Gruß

Die Friedhofhügel wogend schwellen,

Des dunkeln Stromes grüne Wellen,

Der so viel Liebes scheiden muß!

Sie spülen Makel weg und Fehle, –

Und wie ein Schwan beim Wellenschein,

Im Drüberflug ahnt deine Seele:

Hier bad' ich einst den Fittig rein.


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 2, Berlin 1907, S. 9-10.
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