16.

[32] »Frei, frei bin ich! Die Knechtschaft ist zu Ende!

Das offne Thor, ha, wie mich's fast erschreckte!

Wie ungelenk jetzt fesselfrei die Hände,

Die einst in Ketten leicht zu Gott ich streckte!


Frei, frei bin ich! Die Fesseln sind gefallen,

O Licht, wie blend'st du meine Augenlider!

Frei darf ich durch den Garten Gottes wallen

Und stürzen an die Herzen meiner Brüder!


Reicht eure Hände mir! – Doch, ach, wie sollen

Sie dringen durch der Gräber grüne Decken!

Und die Lebend'gen flieh'n, denn nimmer wollen

Sie mit des Sklaven Handschlag sich beflecken!


Wohlan, so will ich selber denn erringen

Mir neue Liebe und ein neues Leben!

Noch fühl' ich Jugendkraft den Arm beschwingen,

Der Jugend Locken noch ums Haupt mir schweben!


Da nahm mein Todfeind schweigend mich am Arme

Und stellte mich vor einer Quelle Spiegel:

O weh, mein Haupt eisgrau, daß Gott erbarme!

Auf Wang' und Stirn der Knechtschaft Furchensiegel!
[33]

Und so ist ungesehn und ohne Grüße

Mein Lenz gewallt durch meines Kerkers Grauen;

Die Hülle tiefer, ew'ger Finsternisse

Ließ mich die leuchtende Gestalt nicht schauen!


Empfang', o Kerkernacht, dieß Herz jetzt wieder,

Als Blume, die gewöhnt an deine Schatten!

In dich als Marmorurne leg' ich's nieder,

Im Grabgewölb der Zeit es zu bestatten.«


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke,Band 1–4, Band 3, Berlin 1907, S. 32-34.
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