4

[11] Beide sahen sich eine Woche später. Wally hatte nicht das Herz, von dem Vorfalle zu sprechen. Aber es währte nicht lange, so sprachen sie über den Mut.

Sie wollte wissen, ob der Mutige die Gefahr absichtlich verkleinere oder geringer achte, ob der Mut noch während der Gefahr daure oder nur das Vorspiel der Gefahr sei. Cäsar sagte, er habe nie über den Mut nachgedacht, besäße ihn auch nicht hinreichend dafür. Wally brannte der Vorfall auf den Lippen; aber sie hielt an sich und lächelte bloß.

»Ich glaube«, sagte Cäsar, »daß es Menschen gibt, deren Mut darin besteht, daß sie die Gefahr gar nicht sehen. Das sind diejenigen, welche als die vorzugsweise Mutigen überall gefürchtet werden: auf den Universitäten jene unverschämten Knaben, die gegen jedermann die Hand in[11] die Seite stemmen und von Verachtung und Malice übersprudeln; unterm Militär diejenigen, welche ihren Säbel gern so hängen, daß sie ihn hinter sich klirren hören. Man kann aber sagen, daß wenn diese Menschen Einbildungskraft genug hätten, die Gefahr zu sehen, sie die verzagtesten sein würden. Der Besonnene ist von Natur niemals mutig. Er folgt nur den Rücksichten und ist unerschrocken, weil die Sache einmal nicht zu ändern ist.«

Wally fand diese Äußerungen durchaus nicht so liebenswürdig, wie sie gewohnt war, dergleichen von ihren männlichen Umgebungen zu hören. Es war in ihrem innerlichen Urteile etwas, was einen guten Schein hatte. Sie vermißte an Cäsar den Reiz der Natürlichkeit. Seine Reflexion zog an, befriedigte aber das Temperament nicht. Nichtsdestoweniger traf sie sehr gut die Gedankenreihe Cäsars, indem sie fortfuhr: »Ich glaube fast. Sie halten die Tugend für eine Berechnung?«

»Die Tugend nicht«, entgegnete Cäsar; »aber alles, was man gern für Instinkt anzusehen gewohnt ist. Unsre Handlungen sollen berechnet sein, unsre Empfindungen sind es. Ich erinnere Sie nur an das Unbequeme mancher Empfindung, mit der wir gern kokettieren, die uns aber in gewissen Zeiten recht zur Unzeit kömmt.«

»Sie sind ohne Natur«, sagte Wally.

»Ich bin ohne Verstellung«, fiel Cäsar ein.

»Ohne Verstellung? Jeder Satz in Ihren Theorien scheint von Ihren zufälligen Zwecken abhängig zu sein.«

Cäsar mußte lächeln; er hatte etwas gesagt, was er nicht meinte.

»Glauben Sie«, fragte er, »daß es in der Liebe eine Höflichkeit gibt?«

»Das versteh' ich nicht.«

Cäsar blickte finster und wollte abbrechen.

»Was ist Ihnen?« fragte Wally.

»Ich denke, Sie vermeiden, über einen Zustand zu sprechen, den Sie vielleicht nicht zu kennen vorgeben.«[12]

»Halten Sie mich für eine Närrin?« fragte Wally, erst bös, dann aber hellte sich ihr Antlitz zu einer Liebenswürdigkeit auf, die Cäsarn fast einen Augenblick zu verwirren schien.

»Nehmen Sie nur an«, sagte er, »wie unzeitig und unbequem man werden kann, wenn man seinen Leidenschaften immer den natürlichen Raum läßt. Ich verspreche zum Beispiel einer Dame, sie einen Tag um den andern zu besuchen. Was heißt das? Sie ist einen Tag um den andern in der Spannung, wo sie glaubt, beglücken zu können. Ihre Gedankenreihen werden immer einen Tag überschlagen, einen Tag, wo sie nicht untreu, aber ohne Rapport und Illusion ist. Man kann nicht unhöflicher sein als an diesem Tage, der überschlagen werden sollte, der für die Liebe gar nicht da ist, seine Braut zu überraschen.«

Wally lachte laut auf. Jetzt hielt sie Cäsarn für einen Narren und fragte ihn, welche Frau ihm diese Geständnisse gemacht habe.

Cäsar war kein Pedant, er lachte mit, fuhr aber fort: »Ich versichre Sie, es ist nichts abscheulicher als das Ungeschickte und Unbequeme. Der Instinkt mag hier manche üble Empfindung hintertreiben; aber sicher geht allein die Combination der Psychologie. Ich möchte um alles in der Welt zu einer gewissen Zeit, unter gewissen Umständen von der Freundschaft kein Opfer, von der Liebe keine Zärtlichkeit verlangen. Mit unsrer rohen Natürlichkeit sind wir immer gewohnt zu übertreiben; in nichts sind wir aber übertriebener als in unsern Forderungen. Ist es erhört, was der Enthusiasmus nicht alles in den gefühlvollen Beziehungen der Geschlechter oder in der Freundschaft zu entdecken glaubte! Wer kann das alles leisten! Wer kann so unhöflich sein, alle diese Leistungen in Anspruch nehmen? Sagen Sie!«

»Ich habe vergessen, Rumohr zu lesen«, antwortete Wally.

»Rumohr!« sprach Cäsar; »Rumohr hatte vielleicht Anstand, aber nicht Geist und Mut genug, eine ›Schule der[13] Höflichkeit‹ zu schreiben. Rumohr glaubt an seine Vorschriften und scheut sich doch, die meisten davon anders als in einem gewissen Helldunkel zu geben. Rumohr glaubte, er müsse sich immer noch eine Hintertür offenlassen, um nicht für einen Fant zu gelten. Auch ist dieser Mann so sehr in die Klassizität verrannt, daß er alle Tugenden und Untugenden des Altertums aufzählt, aber ein wichtiges, modernes Laster ganz mit Stillschweigen übergeht, ein Laster, wofür die Alten gar keinen Ausdruck hatten. Rumohr konnte davon nicht sprechen, weil er selbst darin ganz verstrickt ist. Dies ist die Langeweile. Aber was Rumohr? Es gibt eine weit tiefere Höflichkeitstheorie, welche auf ästhetischen und moralischen Prinzipien zu gleicher Zeit beruht. Soll ich ihren Grundsatz nennen? Lassen Sie aus einem christlichen Gebote nur einen Buchstaben weg. Raten Sie!«

Wally wurde rot: nicht des Rätsels wegen, sondern des Christentums.

Cäsar ergänzte sich selbst und sagte: »Lebe deinen Nächsten wie dich selbst! Sei Egoist, ohne deinen Nachbar zu verwunden! Wenn ich mich in die innersten Falten Ihrer Seele (Falten! Ihre junge Seele! Aber die Seele ist immer alt, der Teil der jahrtausendjährigen Urseele und Weltseele, der in uns wohnt), wenn ich mich in sie versetze, so bin ich gewiß, immer die Wirkungen zu veranlassen, die ich eine Minute vorher schon bestimmen kann. Sie hören mich nicht mehr. Es ist wahr, ich habe zu laut gesprochen.«

Der gute Cäsar mit seinen langweiligen Theorien! Er mochte wunder glauben, wie zart er die Fibern des menschlichen Herzens anatomiere; und hatte schon längst seine Widersacherin innerlichst verletzt. Er wußte dies nicht und schämte sich, so theoretisch debattiert zu haben. Um die Sache war es ihm gar nicht zu tun. Er hatte überhaupt nur zwei Steckenpferde, auf denen er sich heißreiten konnte, die Verachtung der Musik und die Strenge der Erziehung. Diese beiden Fragen interessierten[14] ihn, weil sie das Nächste berührten, das Zimmer des Nachbars gleichsam, weil die Musik sich gern in der Gesellschaft breitmacht und über Erziehung so viel Empfindsames gefaselt wird. Er pointierte die Verachtung der Musik, um die jungen Damen (welche, wenn man von ihnen Gedanken verlangt, mit Musik antworten) ihre Leere fühlen zu machen: in der Erziehung aber den Stock, um sich das Geschwätz über Kinder, das Präsentieren der lieben Kleinen, die Koketterie mit seiner Einzigen oder seinem jüngsten Balge vom Leibe zu halten. Auf alles übrige ließ es Cäsar ankommen. Für Himmel, Hölle, Erde und was drin, drauf und drunter ist, nahm er nur Interesse, um sich zu unterhalten oder eine hübsche Wendung darüber zu haben.

Warum ist Cäsar kein Schriftsteller geworden? Er würde ein vortrefflicher Dialektiker sein, immer gute Gedanken haben und jedenfalls einen glänzenden Stil schreiben.

Quelle:
Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin. Stuttgart 1979, S. 11-15.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Wally, die Zweiflerin
Wally, die Zweiflerin

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon