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[22] Wallys Tante litt an nervösen Reizungen und Abspannungen, an Herzklopfen, Übeln, für welche die Ärzte unter den nassauischen Bädern das tristeste, Schwalbach, empfehlen. Wally konnte in Wiesbaden und Ems tanzen, aber in Schwalbach mußte sie der alten Dame die Zeitungen und Kurszettel vorlesen (die Frau spekulierte wahrhaftig in Papieren!); in Schwalbach mußte sie so manchen häuslichen Dienst übernehmen, den man bald von sich abwälzen würde, wenn man nicht das Vergnügen hätte, in einem Bade zu leben.

Sie hatte dies wunderbare Nassau erreicht, diese unterirdische Küche Hygieas, mit ihren Gebirgskesseln, in denen die heilsamen Quellen sieden und dampfen. Von üppiger Natur kann bei einem Lande nicht die Rede sein, das von Alaun und Schwefel unterminiert ist und in der Ernte immer einen Monat zu spät kömmt. Zwerghaft sind die Bäume auf den Hügeln: aber reizende Perspektiven öffnen sich zahlreich in die weiten Täler. Nichts ist hier schöner als die mannigfachen Schattierungen des grünen Kleides der Natur. Man steht an der morsch zerbröckelnden Mauer einer hohen Straße und sieht kleines Gesträuch zunächst zu seinen Füßen; dann tiefer einen Wald, der sich mit den schwärzesten Tinten in die tiefste Spalte des Tales verliert und in einem dumpfen Murmeln, in dem Rieseln eines Waldbaches zu enden scheint; dort aber erhebt sich wieder der Blick die grüne Alpenmatte entlang, welche am andern Ende des Tales aufwärtssteigt. Auf dem frischen, üppigen Teppich weidet das Auge, bis sich die Sehkraft in jenen dunkeln Kranz von Fichten verliert, welcher den äußersten Horizont umsäumt. Ist das nicht viel für ein Land, wo die Natur sich an gekochtem Wasser erfrischen muß? Das Land ähnelt der Schwäbischen Alb. Auch sprechen die Leute mit schwäbischem Accent.

Wally hat für solche Bemerkungen keinen Sinn: ich führe[22] sie auch nur an, um durch Wallys Mängel ihre Besitztümer anzudeuten. Sie ist ohne Schwärmerei für die Natur, ohne Sinn für Blumen, welche sie zerkaut, wenn sie ihr in die Hand kommen. Sonne, Mond und Sterne gehen ihre Bahnen, ohne von Wally bemerkt zu werden. Jedermann wird bereit sein, sie gefühllos zu nennen, und ihr dennoch Unrecht tun. Wallys unaussprechlicher Reiz ist ihre Natürlichkeit. Sie gibt sich, wie sie ist, und hat die Tugend, alles beim rechten Namen zu nennen. Sie war sehr unglücklich, in Schwalbach leben zu müssen.

Doch traf sich alles besser, als man erwartet hatte. Das allmähliche Herunterkommen der Romantik erschlafft die bisher angespannten Nerven der Nationen. Es waren Deutsche genug da, die an Hoffmanns Tode litten, Franzosen genug, welche die üblen Folgen von Victor Hugos ruhendem Federkiel spürten. Sie alle wollten Reiz. Die spanische Krisis war vielen in den Unterleib geschlagen und hatte Hypochondrie erzeugt. Stahlbäder sind sehr anzuraten. Es war gedrängt in all den Höfen, Goldnen Ketten, Gasthöfen zu den beiden Indien. Wally wohnte im Kaisersaal.

Eines Tages stand sie an einem Orte, den sie vorzüglich liebte, am grünen Tische. Sie hazardierte im Pharo. Sie gewann; sie gewann immer; vielleicht weil Dreistigkeit auch das einzige Geheimnis im Spiele ist. Noch ist es mir unerklärlich, wie die schüchternsten Weiber sich an Dinge wagen, an welche die mutigsten Männer immer mit einer Art von Zaghaftigkeit herangehen. Sie sind die ersten, wo es gilt, einen Turm zu besteigen, auf einem schwindelnden Wege zu gehen, Pistolen abzuschießen, mit einem Eskamoteur in Korrespondenz zu treten, auf Vexierstühle und an die Elektrisiermaschine sich zu stellen. Namentlich wird sich auf diese letzten Dinge oft der mutigste Mann nicht einlassen. Warum die Frauen?

Weil sie gewohnt sind zu herrschen? Weil man ihnen genug sagt, daß ihrer Schönheit nichts widerstehen könne? Wally spielte in der Tat, weil es ihr schon zur[23] andern Natur geworden war, in jeder Lage zu gewinnen.

Plötzlich wird sie unruhig. Sie verliert. Ihr Glück stürzt zusammen. Sie fühlt, daß ihr ein Dämon entgegentritt und ratet auf Cäsar. Sie wußte, daß ihr alles Widerwärtige nur von einem Manne kommen konnte, der sie beunruhigte und der sie vielleicht zu lieben anfing. Wally blickte um sich; Cäsar stand in einer Ecke, grüßte stumm, bot ihr den Arm und führte sie in die Zimmer ihrer Tante zurück, einer Dame, welche er einst mit einer Spinne verglichen hatte, die über das Weltmeer kreucht.

Quelle:
Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin. Stuttgart 1979, S. 22-24.
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