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[24] Ein Gewitter in Schwalbach ist immer eine Katastrophe; aber sie geht vorüber. Noch gefährlicher ist es, wenn der Himmel jene weinerliche Laune hat, daß er von der grauen Wolkendecke unaufhörlich einen nassen Staub tröpfeln läßt. Dann kann man in Schwalbach am besten alle jene Übel bekommen, für welche sein Stahlwasser so gut sein soll. Ist man nicht melancholisch, so wird man es erst. Wally weinte den ganzen Tag vor Ungeduld. Sie wollte nach Wiesbaden; aber ihre Tante bestand darauf, daß ihr die spanische Krisis im Unterleibe säße. Der Geheimerat Fenner von Fenneberg, der Arzt der Saison, warf sich gegen jede Unbesonnenheit ins Mittel. Wally wollte Sterben vor Langerweile. Ihr werdet sagen, sie muß schlecht erzogen worden sein. Gewiß, das war sie.

Cäsar bot alles auf, ihr die trübe Zeit zu verkürzen. Er erzählte ihr Beobachtungen aus Schwalbach, die gar nicht verdienen, übergangen zu werden, z.B. folgende: »Haben Sie noch nichts vom tollen Bärbel gehört? Das tolle Bärbel steht den ganzen Tag vom frühen Morgen bis in die späte Nacht an der Hinterpforte des Gasthofes zu den beiden Indien, die auf die Landstraße nach Ems hinausführt,[24] und späht in die Extraposten, welche den Berg herunterkommen. Sie ist von einem etwas gedrückten Wuchse und hat matte Augen; aber ihre Gesichtsbildung ist im höchsten Grade einnehmend, die Haut von der ganzen Feine und Weiße, welche zu blondem Haare gehört, um blonde Mädchen erträglich zu machen. Der Reiz Bärbels würde noch weit mehr hervortreten, wenn die fixe Idee, welche sie beherrschen soll, ihr nicht den an Wahnwitzigen so unheimlichen Ausdruck und die eigentümliche Verrückung aller Bewegungen gäbe. Und woran leidet sie? An zwei verunglückten Saisons. In der ersten soll sie der Gegenstand irgendeiner eleganten Herablassung gewesen sein, die glücklicherweise ohne Folgen blieb. Sie fiel einem jungen Manne in die Augen, der sie dann drei Monate lang nicht aus seinen Händen ließ und vielleicht gar mit ihr über Vorurteile der privilegierten Stände, über die allgemeine Stimmberechtigung der Liebe und morganatische Ehen philosophiert hat. Er versprach, im nächsten Jahre wiederzukommen. Einen langen Herbst und Winter, einen ganzen Frühling hindurch war Bärbel glücklich und das frommste Mädchen in Schwalbach. Sie war die erste und letzte in der Kirche, die freundlichste zu aller Welt. Die Mäßigung in einem Glücke, das ihre Kräfte überstieg (nämlich das Wiedersehen war für sie schon ein grenzenloses Glück: wie leicht wird es Gott, seine Geschöpfe selig zu machen!). Diese Mäßigung stand ihr ungemein schön, wie die Leute sagen, die aus ihrer jetzigen Verwirrung das Vorangegangene herausgelockt haben. Da kam die zweite Saison. Bärbel stand an der Gartentür der beiden Indien. Ein großer Reisewagen, turmhoch bepackt, mit sechs Pferden bespannt, glitt am Hemmschuh bedächtig die Höhe herab. Vorn und rückwärts Bediente, Kammerzofen, Bologneser Hunde, ein Papagei, ein Geschwätz und Gekrächz, das eine ganz neue Welt in das alte Schwalbach zu bringen schien. Bärbel stand auf den Zehen, blickte in den offenen Schlag und stieß einen entsetzlichen Schrei[25] aus. Sie hatte die untreue Herablassung gesehen, wie sie die Hand eines jungen reizenden Weibes küßte. Es war des jungen Paares erste Badereise, gleich nach der Hochzeit. Das sahe auch Bärbel sogleich ein, nachdem sie wieder zur Besinnung gekommen war, denn noch war sie nicht närrisch; aber sie wurde es; schon durch die Ungewißheit, das Herumlaufen, Fragen, Erkundigen, Abgewiesenwerden durch impertinente Bedienten, durch die Scham, den Mann am Brunnen und auf der Promenade zu sehen und ihm nicht zu Füßen fallen zu dürfen. Sie war den Winter über ganz still. Mit dem Frühjahr wurde sie unruhig, holte immer tiefere Seufzer, schüttelte viel den Kopf, und nun steht sie seit dem ersten Mai zu jeder Stunde des Tages hinter den beiden Indien und muß immer mehr erkranken, schon am Sonnenstich. Sie sieht in jede Kutsche und schämt sich, wenn man ihr Geld zuwirft. Sie ist für alle Schwalbacher Bettler der Lockvogel oder der mit Honig ausgefüllte Stock, um die wilden Almosenbienen zu fangen. Sie ist die unschuldige Heilige, die stumm für sie alle bittet und nichts davon hat als immer tiefern Wahnsinn.«

»Oh, ich bitte Sie, erzählen Sie Geschichten, die sich runden und einen Schluß haben!« fiel Wally ein mit der ganzen Fühllosigkeit, die sie allein schon charakterisieren würde, wenn sie dieselbe nicht mit allen Frauen gemein hätte, wo es sich um die Herzensleiden irgendeiner ihrer Schwestern handelt. Sie sind dabei alle kalt, eine gegen die andere.

»Den Schluß müssen wir abwarten«, sagte Cäsar, erschrocken über Wallys Phlegma. Er hätte sie aufgegeben, wenn sie als Phänomen nicht seine Neugier reizte. Auch würde er sich Vorwürfe gemacht haben, Wally nachgereist zu sein, wäre diese Mühe vergebens gewesen. Er dachte in der Tat daran, bei ihr zu irgendeinem Ziele zu gelangen.[26]

Quelle:
Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin. Stuttgart 1979, S. 24-27.
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