Die eine Klage

[14] Wer die tiefste aller Wunden

Hat in Geist und Sinn empfunden

Bittrer Trennung Schmerz;

Wer geliebt was er verlohren,

Lassen muß was er erkohren,

Das geliebte Herz,


Der versteht in Lust die Thränen

Und der Liebe ewig Sehnen

Eins in Zwei zu sein,[14]

Eins im Andern sich zu finden,

Daß der Zweiheit Gränzen schwinden

Und des Daseins Pein.


Wer so ganz in Herz und Sinnen

Konnt' ein Wesen liebgewinnen

O! den tröstet's nicht

Daß für Freuden, die verlohren,

Neue werden neu gebohren:

Jene sind's doch nicht.


Das geliebte, süße Leben,

Dieses Nehmen und dies Geben,

Wort und Sinn und Blick,

Dieses Suchen und dies Finden,

Dieses Denken und Empfinden

Giebt kein Gott zurück.


Quelle:
Karoline von Günderrode: Gesammelte Werke. Band 1–3, Band 2, Berlin-Wilmersdorf 1920–1922, S. 14-15.
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