An Leonoren

[86] Lüben, den 29. 8 br. 1715.


Die Trennung dient zu größrer Freude,

Drum thu doch nicht so sehr um mich!

So weit ich auch von hinnen scheide,

So nah behalt und küß ich dich,

Weil Licht und Nacht in tausend Bildern

Dem Herzen dein Gedächtnüß schildern.


Nur mir liegt etwas in Gedancken

Und martert mich so stumm als scharf:

Man kennt des Frauenzimmers Wancken;

Ich weis nicht, ob ich hofen darf

Und ob wohl künftig dein Gemüthe

Sich auch mit gleicher Sorgfalt hüte.


Der Zweifel darf dich nicht betrüben,

Er ist ein Zeichen zarter Treu;

Bisher erkenn ich zwar dein Lieben

Und weis, wie rein die Flamme sey;

Wer bürgt mir aber vor das Glücke,

Daß keine Zeit das Ziel verrücke?


Ich kan dir keinen Wächter stellen,

Es wäre denn dein eigner Geist;

Doch weil die Macht von manchen Fällen

Die Klügsten aus dem Circkel reißt,

So las dir, wiltu mein verbleiben,

Die Regeln in das Herze schreiben.


Die Liebe reicht auch in die Ferne,

Und dies heist recht beständig seyn.

Verehre die geneigten Sterne,

Und zürnt ihr abgenommner Schein,

So mustu mehr durch Flehn als Fluchen

Den Himmel zu versöhnen suchen.
[87]

Erwege stündlich in der Stille

Den Anfang der Zusammenkunft,

Bedencke nur, dein eigner Wille

Beschwur das Bündnüß mit Vernunft;

Vergiß auch nicht, was mein Verlangen,

Nur dich zu sehn, oft angefangen.


Vermeide die Gelegenheiten,

Wo viel Gesellschaft spielt und küst;

Der Scherz kan öfters viel bedeuten,

Man weis, wie starck die Reizung ist;

Und mustu dich der Welt bequemen,

So las dich andrer Puz beschämen.


Besuche fleißig alle Gänge,

Wodurch ich dich bisher geführt,

Vornehmlich wo der Bircken Menge

Das Ufer und die Wiesen ziert,

Und dort naus, wo dein sachtes Küßen

Mich oft im Grünen wecken müßen.


Du weist und kanst auch überlegen,

Wie kräftig mich der Mond ergözt,

So daß ich seines Schimmers wegen

Die Nacht dem Tage vorgesezt;

Besinne dich in solchen Schatten,

Wie viel wir sichre Zuflucht hatten.


Steh freudig auf, geh froh zu Bette,

Doch sieh vorher mein Bildnüß an

Und nimm den Ring, die Liebeskette;

Denn ob gleich keines reden kan,

So wirstu doch bey ihrem Spielen

Viel Wachsthum sanfter Neigung fühlen.


Dein Absehn mustu wohl verheelen;

Sprich jeden, der mir Gutes gönnt,[88]

Und las dir stets von mir erzehlen

Und liebe das, was mich nur kennt;

Durchblättre meine Vers und Lieder

Und sing und leg und lis sie wieder.


Geh täglich in des Herren Tempel,

Die Andacht kommt der Liebe bey;

Das Alterthum hat viel Exempel

Verliebter Lust und seltner Treu;

Bemüh dich drum und lis und mercke,

Wie zärtlich dich ihr Beyspiel stärcke.


Las weder Post noch Boten säumen

Und miß Papier und Silben nicht,

Erzehle mir aus allen Träumen,

Ihr Schatten giebt den Klugen Licht,

Und ist dir aller Zeug benommen,

So schreib mir stets ums Wiederkommen.


Leg alles, was ich schriftlich sende,

Ohn Argwohn auf dein Vortheil aus;

Betrachte wohl den Zug der Hände

Und suche vor das L. heraus,

Ja, halt ein jegliches Gerüchte

Von meiner Untreu vor Gedichte.


Es braucht kein häufiger Geschweze,

Denn liebstu recht, so liebstu klug;

Ich geb und halt auch die Geseze.

Kind, gute Nacht! Du hast genug.

Soll etwas mir dein Bild entführen,

So muß ich vor mein Herz verlieren.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Leipzig 1930, S. 86-89.
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