2.

Sehnsucht nach dem Vaterlande

[5] 1726.


Ich werde eine gleiche Schonung für dieses kleine Stücke suchen müssen, das in einer schwermüthigen Stunde auf meinen Reisen entstanden und vielleicht deswegen erhalten worden ist, weil es die Rührung des Herzens einigermaßen vorstellt.


Beliebter Wald! beliebter Kranz von Büschen,

Der Hasels Höh mit grünem Schatten schwärzt,1

Wann werd ich mich in deinem Schooß erfrischen,

Wo Philomel auf schwanken Zweigen scherzt?

Wann werd ich mich auf jenen Hügel legen,

Dem die Natur das Moos zum Teppich schenkt,

Wo alles ruht, wo Blätter nur sich regen,

Und jener Bach, der öde Wiesen tränkt?


Ach, Himmel! laß mich doch die Thäler grüßen,

Wo ich den Lenz des Lebens zugebracht,

Und in dem Wald bei kleinen Wassergüssen

Auf einen Reim für Silvien gedacht,[6]

Wo schwaches Laub, belebt vom Westen-Winde,

Die matte Seel in sanfte Wehmuth bringt,

Und in dem Frost noch nie bestrahlter Gründe

Kein Leid mehr bleibt, das nicht die Stille zwingt.


Hier muß ich mich mit stätem Kummer schlagen,

Die Ruh ist mir ein unbekanntes Gut;

Mein Geist versinkt in immer neuen Plagen,

Ich weiß noch nicht, wie Ruh und Freude thut.

Entfernt vom Land, wo ich begann zu leben,

Von Eltern bloß, und fremd für jedermann,

Dem blinden Rath der Jugend übergeben,

Gefährlich frei, eh ich mich führen kann.


Bald schleicht ein Weh durch meine matten Glieder,

Das selbst den Trieb nach Ruhm und Wahrheit dämpft;

Bald fällt der Bau der schwachen Hoffnung nieder,

Die athemlos mit Gram und Ohnmacht kämpft;

Bald bricht die Flut den Schutt von mürben Dämmen,2

Womit der Tod an unsre Wälle schwimmt;

Bald will uns Mars mit Flammen überschwemmen,

Davon der Tacht schon in der Asche glimmt.


Doch nur getrost, es kann nicht immer währen!

Des Wetters Macht nimmt ab bei jedem Streich.

Vergangnes Leid muß Wohlsein fühlen lehren,

Wer nie gedarbt, ist ohne Freude reich.

Ja, ja, die Zeit trägt auf geschwinden Flügeln

Mein Unglück weg und meine Ruh heran;

Beliebte Luft auf väterlichen Hügeln,

Wer weiß, ob ich dich einst nicht schöpfen kann!
[7]

Ach, daß ich dich schon itzt besuchen könnte,

Beliebter Wald und angenehmes Feld!

Ach, daß das Glück die stille Lust mir gönnte,

Die sich bei euch in öder Ruh erhält!

Doch endlich kömmt, und kömmt vielleicht geschwinde,

Auf Sturm die Sonn und nach den Sorgen Ruh.

Ihr aber grünt indessen, holde Gründe,

Bis ich zu euch die letzte Reise thu!

1

Landgut unweit Bern.

2

Da eben in Holland eine große Ueberschwemmung war und die Zeitläufe für sehr gefährlich angesehen wurden.

Quelle:
Albrecht von Haller: Gedichte, Frauenfeld 1882, S. 5-8.
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Ausgewählte Ausgaben von
Versuch Schweizerischer Gedichte
Versuch schweizerischer Gedichte: Nachdruck der elften vermehrten und verbesserten Auflage Bern 1777

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