(CLV.)
Die Hungerleyder.

[204] Es ist leicht zu verstehen / daß dieser Gast / und beschwerliche Glaubiger der Hunger seye: was man heut bezahlt und ihn mit Speiß und Tranck gestillt / das muß man ihm morgen und übermorgen bezahlen / und wäret diese Schuldigkeit so lang wir leben / dann ob sich zwar Leute gefunden / die der Speise und deß Getranckes sich enthalten / so ist es ihnen doch endlich ergangen / wie deß Eulenspiegels Esel / der die Kunst hat lernen sollen / und endlich darüber gestorben.

2. Gewißlich kan nichts lang leben ohne Nahrung und ist Speiß und Getranck nothwendig zu Ersetzung der natürlichen[204] Feuchtigkeit / welche nach und nach verzehret wird / und zu Erhaltung der Lebensgeisterlein / welche in allen unsrem Thun abnehmen / welches auf viel Weisse geschihet: Massen das Leben nichts anders ist / als die natürliche Hitze / durch die Lebens Feuchtigkeit unterhalten / gleich wie in einer Lampen die Flamme von dem Oel brennend genehret wird / und hangen an der Nahrung deß Menschen alle andre Geschäfftigungen seiner Glieder / als deß Magens / der Lebern / der Lungen / etc.

3. Zu Speier soll zu Käyser Ferdinands Zeiten ein Mägdlein / vier gantzer Jahre / ohne Speiß und Getranck gelebet haben / deßwegen der Käyser die Gelährten derselben Zeit angehöret / und unterschiedliche Meinungen befunden. Wie hiervon zu lesen Langij zweyte Epistel / Dieser gedencket auch Greg. Horst. im 7. Buch seiner Artzney Geschichte.

4. Licetus erzehlet von einer solchen Hungerleyderin in dem Florentinischen / welche die Hertzogin zu ihr holen lassen / und befunden / daß sie 16. Monat ntůchtern / ohn Essen und Trincken geblieben. Savanarola bestättigt solches im 16. Buch am 13. Cap. auß welchem es Licetus vielleicht genommen.

5. Zu Schmiedweiller in der Pfaltz / hat eines Küfers Tochter / Namens Catharina sieben gantze Jahre / ohne Nahrungsmittel gelebt / welcher Geschichte Beglaubung und Zeugschafft 1556. zu Heidelberg Teutsch getrucket worden. Lemnius / Licetus / Huls / Schenck und viel andre / die es einander außgeschrieben haben. In einer Kranckheit hatte diese Catharin die Rede verlohren / und solche wunderlich wieder bekommen. Dergleichen hat auch eine Dirne in Piemont nur Wasser getruncken / aber keine Speise an sich genommen / ist zu Genua lange Zeit für ein Wunder verwahret worden / und hat die Prob außgehalten. Licetus.

6. Peter Under ein Schweitzer / soll die 20. Jahre seines Lebens ohne Essen und Trincken zugebracht haben. Es ist ein dürrer magerer Mann gewesen für welchen man einen[205] Abscheu beginnet. Sein Bildniß weiset man noch in der Schweitz. Dieser Exempel werden nun hin und wieder in grosser Anzahl gelesen / auch von etlichen / daß sie noch geessen noch geschlaffen / und an statt desselben sich in die Sonne geleget / geschrieben. Mercurial. l. 3. pract. c. 7.

7. Hierüber fallen nun unterschiedliche Meinungen. Etliche glauben nicht daß diesem also / und halten dafür / es sey Betrug / oder ein Teuffelskunst darunter verborgen / welches auch bey vielen solchen Hungerleidern / die es mit dem Schein der Heiligkeit thun / wol war seyn mag; und vermeinen solche / daß dem Wunderfasten Mosis / Elia und deß Herrn Christi dardurch zu Nachtheil geredet werde / von welchem wissend ist / daß sie aus übernatürlichen Kräfften gefastet / und doch bey guter Gesundheit gewesen.

8. Etliche aber sagen / daß man auch ohne Essen und Trincken lange Zeit sich erhalten könne / durch die Pillulen von Tabac / so die Indianer drey oder vier Tage deß Hungers befreyen / von wolriechenden Sachen / von einem Safft auß dem Brot und Wein gemacht / oder auch / wann der Leib mit kalten und zähen Feuchtigkeiten angefüllet ist / daß der Magen dieselben zu däuen hat / und dem Hunger wäret. Man beobachtet auch / daß solche Hungerleider kranck / oder Krancken gleich sehen / und höret bey ihnen auch der natürliche Stullgang auff.

9. Andre schreiben hiervon / daß alles was lebet / bey sich habe eine eingeschaffene Nahrung / gleich wie in den Samen und Blumen / welche abgebrochen und ihres Nahrungssaffts beraubet sind / nicht alsobalden verwelcken / und sich offt etliche Tage frisch erhalten lassen / also ist in den Eyern eine solche wesentliche Krafft / daß sie ohne äusserliche Nahrung frisch können erhalten werden.

10. Dergleichen Eigenschafft soll sich auch bey etlichen Menschen befinden / und wie ein Getreid bald / das andre langsam fruchtet / theils auch gar verdirbet; also können etliche Menschen lang / etliche aber gar kurtze Zeit Hunger leiden /[206] nach der Beschaffenheit ihres Leibes / welche wegen innerlicher Nahrung auf eine / aber kurtze Zeit der äusserlichen Unterhaltung entrathen können.

11. Es sind auch noch zweyerley Hungerleyder: Erstlich diese / welche aus Armut fasten / von denen Socrates / als er gefragt worden / wann man Mahlzeit halten soll? geantwortet: Die Armen / wann sie können / die Reichen / wann sie wollen. Jener Schmarotzer bey dem Plauto / sagte / der Hunger were sein Vatter / und daß er / so lang er auff dieser Welt / niemals satt worden / etc.

12. Andre die martern sich mit fasten aus Gottesfurcht / oder aus Heucheley / oder auch auß einem bösen Fürsatz. Also wolte Charnasse, ein Frantzösischer Herr Hungers sterben aus Traurigkeit / wegen seines verstorbenen Weibs / als er nun in der vierten Tag keine Speise zu sich genommen / ist er in eine grosse Schwachheit gefallen / und hat ihn der halbe Schlag die rechte Seiten gelähmet: Als er nun die Straffe GOTTES erkennet / hat er sich von seinen Gefreunden bereden lassen zu leben / und Speiß und Getranck zu sich nehmen. Dieser Herr ist hernach für Důttenhofen erschossen worden.


Rähtsel.


Ein alter stummer Mann bat einmal einen Blinden /

er solte schauen zu / ob irgend wo zu finden

ein Geiger / seinen Sohn / der taub / zu spielen auf /

Der Blinde sagte ja / schickt auch in schnellem Lauf /

Den lahmen jungen zu / der ihn sonst pflegt zu leiten.

Den Geiger holt er her / er spielt' auf seinen Seiten /

Doch hatt' er keine Hand. Der Taube hörte zu /

Der Blinde sah' ihn an / der Lahme sonder Schuhe

dantzt' in der Stuben um: Der Stumme must sie loben /

Dieweil sie ingesammt erwiesen Meistersproben.[207]

Nun rahtet alle her / und sagt mir was ich mein

Es soll / der es erräht / zu Schweigheim Rahtherr seyn?


Quelle:
Georg Philipp Harsdörffer: Der grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte, 2 Bde, Frankfurt a.M. und Hamburg 1664, S. 204-208.
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