(CLXXV.)
Der Sittenlehrer.

[282] Der Rähtsel ist leicht zu verstehen / und hat diese Jungfrau einen Mann verlanget / den der Vatter noch gehabt / noch haben kan. Die Ebreer schreiben / daß ein Weib ohne Mann ein halber Mensch seye / und müsse durch den Ehestand zusammen verknüpfet werden / was durch die Erschaffung deß Weibes von dem Manne geschieden worden / damit sie zwey seyen in einem Fleische. Weil nun das Weib nicht von Adams Haubt / noch von seinen Füssen / sondern von seiner Seiten und Hertzen genommen worden / dardurch zu bedeuten / daß sie noch sein Haubt noch seine Knechtin / sondern seine liebste Hertzen und Seitenfreundin seyn solte; können auch Eheleute nicht ohne grossen Schmertzen durch den Tod gleichsam halbieret und getrennet werden.

2. Wie wir nun zu Ende deß vorgesetzten Theils den Naturkündiger mit etlichen Fragen auf den Schauplatz gestellet; als wollen wir hier etliches aus der Sittenlehre anfügen / und erstlich fragen:


Wann man sich heyraten soll? Ant:


Wie dort Socrates geantwortet / als er gefraget worden / wann man Mahlzeit halten soll? Der Reiche wann er wil; Der Arme wann er kan / also könte man solches auch von den Heyraten sagen: Der Reiche kan heyraten / nach deme er seine vogtbare Jahre erlangt / wann er wil / und wo er wil / dann den Geldmitteln stehet alles offen; Der Arme aber muß die Gelegenheit erwarten / und vielmals suchen ohne finden. Ein andrer beantwortete die Frage also. Man soll[282] heyraten / wann man etwas reuwürdiges begehen wolle. Ins gemein wollen die Artzney verständige / daß keine Weibsperson vor 18. Jahren heyraten soll / weil vor dieser Zeit / die Gänge in dem Leib noch zu schwach / daß die Geburt dardurch nicht wol und gnugsam kan ernehret werden / dabey entweder keine / oder gar schwache Kinder erfolgen / welche die Zeit ihres Lebens Kräncklinge und blöde Leute werden.


3. Warinnen bestehet die Keuschheit? Ant:


Die Keuschheit ist zweyerley: Deß Gemüts / und deß Leibs / beedes muß beysammen seyn / wann man für Gottes Angesicht keusch seyn soll: für den Menschen aber ist die Keuschheit deß Leibes genugsam.


4. Warum schwimmen die Leichname der Weiber nicht auf dem Rucken / wie die Leichnam der Mannsperson?


Es scheinet daß die Natur hierdurch den Weibern die Schamhafftigkeit bedeuten und anbefehlen wollen: Andre sagen; weil der Leib und der Bauch deß Weibes einem halb runden und ablangen Schiff gleiche.


5. Warum soll die Obrigkeit seyn?


Weil die Armut zu allen Lastern veranlast / und weil ein Dürfftiger die Gerechtigkeit nicht wol handhaben kan.


6. Was hat die Heucheley gutes und böses?


Bey verständigen Herren giebet sie zu verstehen / wie sie beschaffen seyn sollen: Bey Unverständigen Herren aber kommet sie aus Furcht und knechtischen Gemütern / welche vielmals böse und Ehrsüchtige Rathschläge verursachen / und halten sie viel für ärger / als die Raben / weil solche nur die Verstorbnen / die Heuchler aber auch die Lebendigen fressen.


7. Welches ist der beste Geitz?


Wann man begierig ist die Zeit zu raht zu halten / und sich mit Tugenden zu bereichern.


8. Was findet sich schwerlich beysammen?


Die Schönheit und Keuschheit / Reichthum und Demut / Jugend und Erbarkeit / Alter und Freygebigkeit / Glück ohne Unglück.


[283] 9. Warum soll man die Wollust fliehen.


Dieweil allezeit Reue und Schmertzen darauf erfolget.


10. Ist der Verschwender oder Geitzige besser zu achten?


Der Verschwender / dann er thut ihm und andern Leuten Guts / der Geitzhals aber kan niemand Gutes thun / auch ihme selbsten nicht.


11. Was Mittel hat man die Laster zu meiden?


Wann man sich allezeit bemühet / das Widerspiel zu thun dessen / darzu man geneigt ist; als: Ein Geitziger bemühe sich freygehig zu seyn; Ein Stoltzer befleissige sich der Demut; ein Fauler arbeite; ein Geiler enthalte sich aller Unreinigkeit / und die Gelegenheit zu derselben / solcher Gestalt kan man zu der Tugend näher / und weiter von dem Laster abkommen.


12. Warum soll ihm keiner grossen Reichthum wünschen?


Weil er meinsten Theils mit bösen Mitteln gewonnen / und mit vielen Sorgen erhalten / oder mit noch grösserm Hertzenleid verlohren wird.


Ende deß siebenden Theils.

Quelle:
Georg Philipp Harsdörffer: Der grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte, 2 Bde, Frankfurt a.M. und Hamburg 1664, S. 282-284.
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