Erste Szene.

[73] DER AMTSSEKRETÄR. Nun ... haben Sie die Akten von dem alten Satan von Besenbinder ... von diesem alten Raschke, wieder einmal durchgesehen?

DER POLIZIST. Jawohl, Herr Sekretär ...

DER AMTSSEKRETÄR sich die Backe haltend. Das ist ja schon eine ganze Bibel ...

DER POLIZIST. Jawohl, Herr Sekretär ... denn nämlich ... der alte Besenbinder hat in diesem Leben schon so ziemlich alles durchgemacht, was einem Menschen in einem irdischen Jammertale nur irgendwie auf die Brust schlagen kann.[73]

DER AMTSSEKRETÄR. Zum Beispiel was?

DER POLIZIST. Nun, Jesus ... Herr Sekretär ... er soll doch schon in seiner Jugend ... soll er doch schon in einem Kaninchenstalle geboren sein ... sagen die Leute ...

DER AMTSSEKRETÄR. Woher wollen denn das die Leute wissen? ... der Alte ist ja schon über die fünfundsiebenzig Jahre hinaus ...

DER POLIZIST. Jawohl, Herr Sekretär ... über fünfundsiebenzig Jahre ist der bissige Griesbär schon lange hinaus ... deshalb grade ... denn nämlich ... niemand kann überhaupt eine Ahnung haben, wo der das Licht der Welt sonst erblickt haben könnte ... deswegen sieht einen doch der alte Bottig auch immer mit so rollenden Augen an wie ein aufgestachelter Ziegenbock ...

DER AMTSSEKRETÄR der sich fortwährend die Backe hält und dabei auch in Akten blättert. Ih ... das fehlte grade noch, daß jetzt solche Zauberkünstler und Wunderleute hier in unser Nest kämen ... wie heißt dieser Mann? ... Johannes Habundus? ... was hat er da alles für Allotria in der Schenke getrieben ... Sie haben es doch mit angesehen ...[74]

DER POLIZIST. Na ... hahahaha ... ich sage kein Wort ...

DER AMTSSEKRETÄR springt auf, weil er einen Schmerzanfall hat, und schreit seine Worte heraus. Solche maskierte Sklavenhändler müssen wir fest im Auge behalten ... die könnten das ganze Dorf vollends in ein Tollhaus verwandeln ... solche Leute sind Schnelläufer ... die laufen mit Siebenmeilenstiefeln ... die muß man rasch dingfest machen ...

DER POLIZIST. Jawohl, Herr Amtssekretär ... wir könnten ja morgen früh die Vorladung aufsetzen ... und übermorgen könnte ich das amtliche Schreiben dem gnädigen Herrn eigenhändig unterbreiten ...

DER AMTSSEKRETÄR. Jajaja ... legen Sie lieber das Ofenloch voll, daß wenigstens das Amtslokal warm wird ...

DER POLIZIST. Sie haben sicher ein Zahngeschwür, Herr Amtssekretär ...

DER AMTSSEKRETÄR. Was denn sonst?

DER POLIZIST. Lassen Sie sich doch eine schwarze Gartenschnecke über das Zahnfleisch kriechen ... und binden Sie sich nachher drei frische Erdbeeren auf die Backe ...[75]

DER AMTSSEKRETÄR halb für sich. Rindvieh ...

DER POLIZIST. Fürs Rindvieh ... ganz gewiß ... aber das hilft sicher auch Ihnen ... nur daß man jetzt mitten im Winter nicht wüßte, wo man gleich drei frische Erdbeeren und eine schwarze Gartenschnecke hernehmen sollte ... man könnte vielleicht auch eingelegte nehmen ...

DER AMTSSEKRETÄR. Sperren Sie lieber die Ohren auf ... es hat geklopft ...

DER POLIZIST ist aufgesprungen und hat die Tür geöffnet. Man sieht vor der Tür die Besenbinderleute stehen. Die Raschkeleute sind schon eingetroffen, Herr Amtssekretär ... warten ... es ist noch nicht halb zwölfe ... Er wirft die Tür wieder zu.

DER AMTSSEKRETÄR. Ich habe furchtbare Schmerzen ...

DER POLIZIST. Oder wenn ich Ihnen noch was raten soll, Herr Amtssekretär ... das ist auch ein kurrentes Mittel ... trinken Sie kolossal Milch ... aber gleich schüsselweise ...

DER AMTSSEKRETÄR. Das ist einem Verwandten von mir sehr schlecht bekommen ...[76]

DER POLIZIST. Das ist doch aber Säuglingsnahrung ...

DER AMTSSEKRETÄR. Der Mann war Landwirt ... kam vom Felde ... griff im Keller nach einer Schüssel voll Milch ... es war heißer Sommer ... er war verdurstet ... er trinkt die ganze Schüssel auf einmal aus ...

DER POLIZIST. Nun ... und?

DER AMTSSEKRETÄR. Nach einem Jahre war der Mann tot ... Der Polizist lacht. Lachen Sie nur ... immer lachen Sie nur ... weil Sie nie eine Dummheit richtig begreifen ... die Sache war völlig ausgeartet ... die große Schüssel Milch war im Magen dieses Mannes zu einem kolossalen Käse geronnen ... und diesen Käse hatte der Doktor mit keiner Macht der Welt wieder 'rausgekriegt ...

DER POLIZIST. Nun jaja ... wie's Schicksal manchmal spielt ...

DER AMTSSEKRETÄR. Ach ... quatschen Sie nicht vom Schicksal ... was ist denn nun eigentlich von dem alten Halunken, dem Raschke, bekannt?

DER POLIZIST wieder in Amtsmiene. Bekannt? ... was von dem Menschen bekannt ist,[77] ist alles unbekannt ... denn selbst, von was der Mann hat leben können, kann man sich nur in der Phantasie klar machen ...

DER AMTSSEKRETÄR mit dem Blick in den Akten. Ja ... und wie ist denn die Sache ... was seine Kinder betrifft? ...

DER POLIZIST. Hahahaha ... aber das ist eben das Hübsche von dem Manne, daß der sich niemals im Leben hat einschüchtern lassen ... der tut Ihnen noch heute grade so, als wenn die ganze Welt nur für ihn gemacht wäre ... wenn der so für sich auf der Straße hinschlottert, dem können Sie dreiste einen Taler in die schwielige Hand stecken ... der sieht doch Sie gar nicht erst an ... der denkt, den Taler hätt' ihm der liebe Herrgott persönlich aus dem blauen Himmel in den dreckigen Handteller geschmissen ... und er würde immerfort nur dastehen ... und den Taler ansehen ... und vor sich hinlachen, daß unser lieber Herrgott auf eine so große Entfernung so gut treffen kann ... nämlich ... er und der liebe Herrgott ... sonst verachtet der Mann alles ...

DER AMTSSEKRETÄR. Und die alte Raschke? ...

DER POLIZIST ohne zu hören. Deshalb behauptet der alte Schubiak auch steif[78] und feste, daß alles in der Welt so eingerichtet wär', daß am Ende etwas ganz Besonderes ans Licht kommen müßte ...

DER AMTSSEKRETÄR heftig. Und die alte Raschke?

DER POLIZIST. Steckt mit dem Alten unter einer Decke ...

DER AMTSSEKRETÄR. Und die jungen Raschkeleute? ... wie steht es mit denen?

DER POLIZIST. Die ziehen mit dem Alten an einem Strange ...

DER AMTSSEKRETÄR. Jawohl ... so lange bis wenigstens die beiden Langfingerpotentaten zum wievielten Male ins Loch spazieren ...

DER POLIZIST. Aber ein Verdienst hat der Schurke doch, Herr Amtssekretär ...

DER AMTSSEKRETÄR. Jaja ... ich kenne seine Verdienste ... im Protokolle steht es ... ich kenne auch seine Weisheit, die er schon hundertmal zum besten gegeben ... daß die ehrlichen Leute froh sein müßten, daß es den Unehrlichen auch Spaß machte zu leben ... weil doch die Unehrlichen[79] die Sünden der Welt gutmütig auf ihrer Buckel nähmen ... verhören ... los ... rasch ... einzeln eintreten! ...

DER POLIZIST ruft zur Tür hinaus. Der P.P. Raschke! ...


Quelle:
Carl Hauptmann: Die armseligen Besenbinder. Leipzig 1913, S. 73-80.
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