Zweite Szene

[622] ASSAD.

Ich soll sie sehn! Und wenns nur einmal wäre,

Ich soll sie sehn! O, daß die Mitternacht

Doch endlich käme! Daß der Tempelwächter

Doch endlich –

EINE STIMME ruft von der Moschee herab.

Auf, ihr Gläubgen, zum Gebet!

ASSAD.

So ist sie da, die grause, grause Stunde,

In welcher, wie es heißt, die Toten leben

Und die Lebendgen tot sind; wird denn nun

Geschehn, was mir der Greis –


Er stürzt betend auf die Knie.


Allah! – Du weißt! –

Ich finde keine Worte! Laß den Greis[622]

Mich nicht betrogen haben!


Springt auf.


Pfui! Pfui!

Was sagt ich da! Mein Herz weiß nichts davon!


Er hebt den Rubin gegen den Mund.


Ists denn so kalt? Mich friert! In dieser Stunde

Schloß meines Vaters Auge sich auf ewig,

Wird sich das ihre öffnen? Fort, ihr Zweifel!

Es wird! Es muß! Es soll!


Er küßt den Rubin drei Mal. Dieser entfällt ihm.


Der Stein wird schwer

In meiner Hand, als ob –


Eine Nebelwolke quillt aus der Erde.


In eine Wolke

Löst er sich auf – Ja, ja, in eine Wolke!

Und diese Wolke – sie verdichtet sich –

Ich seh – ich seh ein holdes Angesicht –


Ausbrechend.


Ich sehe sie!


Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 1, München 1963, S. 622-623.
Lizenz:
Kategorien: