Vierte Szene

[206] Ute tritt leise ein.


UTE.

Schon auf, Kriemhild?

KRIEMHILD.

Das wundert mich von dir,

Du pflegst ja erst des Morgens einzuschlafen

Und auf dein Mutterrecht, von deiner Tochter

Geweckt zu werden, wie sie einst von dir,

Dich zu verlassen.

UTE.

Heute konnt ich nicht,

Es war zu laut.

KRIEMHILD.

Hast du das auch bemerkt?

UTE.

Ja, wie von Männern, wenn sie stille sind.

KRIEMHILD.

So irrt ich nicht.

UTE.

Das hält den Odem an,

Doch dafür fällt das Schwert! Das geht auf Zehen

Und stößt den Ofen um! Das schweigt den Hund

Und tritt ihn auf den Fuß!

KRIEMHILD.

Sie sind vielleicht

Zurück.

UTE.

Die Jäger?

KRIEMHILD.

Einmal kams mir vor,

Als ob man bis an meine Tür sich schliche,

Da dacht ich, Siegfried seis.

UTE.

Und gabst du ihm

Ein Zeichen, daß du wachtest?

KRIEMHILD.

Nein.

UTE.

So kann

Ers auch gewesen sein! Nur wäre das

Doch fast zu schnell.

KRIEMHILD.

So wills mich auch bedünken!

Auch hat er nicht geklopft.

UTE.

Sie zogen ja,

So viel ich weiß, nicht für die Küche aus,

Sie wollen unsern Meiern Ruhe schaffen,

Die ihre Pflüge zu verbrennen drohn,

Weil stets der Eber erntet, wo sie sä'n!

KRIEMHILD.

So?[206]

UTE.

Kind, du bist schon völlig angekleidet

Und hast nicht eine Magd um dich?

KRIEMHILD.

Ich will

Die kennen lernen, die die Frühste ist,

Auch hat es mich zerstreut.

UTE.

Ich hab sie alle

Der Reihe nach beleuchtet mit der Kerze.

Ein jedes Jahr schläft anders! Funfzehn, sechszehn

Noch ganz, wie fünf und sechs. Mit siebzehn komme

Die Träume und mit achtzehn die Gedanken,

Mit neunzehn schon die Wünsche –


Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 2, München 1963, S. 206-207.
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