Siebzehnte Szene

[295] Großer Saal. Bankett.

Dietrich und Rüdeger treten ein.


DIETRICH.

Nun, Rüdeger?

RÜDEGER.

Es steht in Gottes Hand,

Doch hoff ich immer noch.

DIETRICH.

Ich sitze wieder

Am Nixenbrunnen, wie in jener Nacht,

Und hör in halbem Schlaf und wie im Traum

Das Wasser rauschen und die Worte fallen,

Bis plötzlich – Welch ein Rätsel ist die Welt!

Hätt sich zur Unzeit nicht ein Tuch verschoben,

So wüßt ich mehr, wie je ein Mensch gewußt!

RÜDEGER.

Ein Tuch?

DIETRICH.

Ja, der Verband um meinen Arm,

Denn eine frische Wunde hielt mich wach.

Sie pflogen drunten Zwiesprach, schienen selbst

Den Mittelpunkt der Erde auszuhorchen,

Den Nabel, wie ich sie, und flüsterten

Sich zu, was sie erfuhren, zankten auch,

Wer recht verstanden oder nicht und raunten

Von allerlei. Vom großen Sonnenjahr,

Das über alles menschliche Gedächtnis

Hinaus in langen Pausen wiederkehrt.

Vom Schöpfungsborn, und wie er kocht und quillt

Und überschäumt in Millionen Blasen,

Wenn das erscheint. Von einem letzten Herbst,

Der alle Formen der Natur zerbricht,

Und einem Frühling, welcher beßre bringt.[295]

Von alt und neu, und wie sie blutig ringen,

Bis eins erliegt. Vom Menschen, der die Kraft

Des Leuen sich erbeuten muß, wenn nicht

Der Leu des Menschen Witz erobern soll.

Sogar von Sternen, die den Stand verändern,

Die Bahnen wechseln und die Lichter tauschen,

Und wovon nicht!

RÜDEGER.

Allein das Tuch! Das Tuch!

DIETRICH.

Sogleich! Du wirst schon sehn. Dann kamen sie

Auf Ort und Zeit, und um so wichtiger

Die Kunde wurde, um so leiser wurde

Das Flüstern, um so gieriger mein Ohr.

Wann tritt dies Jahr denn ein? So fragt ich mich

Und bückte mich hinunter in den Brunnen

Und horchte auf. Schon hört ich eine Zahl

Und hielt den Odem an. Doch da erscholl

Ein jäher Schrei: Hier fällt ein Tropfen Bluts,

Man lauscht! Hinab! Husch, husch! Und alles aus.

RÜDEGER.

Und dieser Tropfen?

DIETRICH.

War von meinem Arm,

Ich hatte, aufgestützt, das Tuch verschoben

Und kam so um das Beste, um den Schlüssel,

Jetzt aber, fürcht ich, brauch ich ihn nicht mehr!


Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 2, München 1963, S. 295-296.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Nibelungen
Die Nibelungen
Dramen (Judith - Maria Magdalena - Gyges und sein Ring - Die Nibelungen)
Agnes Bernauer - Die Nibelungen - Deutsche Klassiker Bibliothek der literarischen Meisterwerke

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon