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Die Libelle

[216] Es tanzt die schöne Libelle

Wohl auf des Baches Welle;[216]

Sie tanzt daher, sie tanzt dahin,

Die schimmernde, flimmernde Gauklerin.


Gar mancher junge Käfertor

Bewundert ihr Kleid von blauem Flor,

Bewundert des Leibchens Emaille

Und auch die schlanke Taille.


Gar mancher junge Käfertor

Sein bißchen Käferverstand verlor;

Die Buhlen sumsen von Lieb' und Treu,

Versprechen Holland und Brabant dabei.


Die schöne Libelle lacht und spricht:

»Holland und Brabant brauch ich nicht,

Doch sputet euch, ihr Freier,

Und holt mir ein Fünkchen Feuer.


Die Köchin kam in Wochen,

Muß selbst mein Süpplein kochen;

Die Kohlen des Herdes erloschen sind –

Holt mir ein Fünkchen Feuer geschwind.«


Kaum hat die Falsche gesprochen das Wort,

Die Käfer flatterten eilig fort.

Sie suchen Feuer, und lassen bald

Weit hinter sich den Heimatwald.


Sie sehen Kerzenlicht, ich glaube

In einer erleuchteten Gartenlaube;

Und die Verliebten, mit blindem Mut

Stürzen sie sich in die Kerzenglut.


Knisternd verzehrten die Flammen der Kerzen

Die Käfer und ihre liebenden Herzen;

Die einen büßten das Leben ein,

Die andern nur die Flügelein.
[217]

O wehe dem Käfer, welchem verbrannt

Die Flügel sind! Im fremden Land

Muß er wie ein Wurm am Boden kriechen,

Mit feuchten Insekten, die häßlich riechen.


»Die schlechte Gesellschaft«, hört man ihn klagen,

»Ist im Exil die schlimmste der Plagen.

Wir müssen verkehren mit einer Schar

Von Ungeziefer, von Wanzen sogar,


Die uns behandeln als Kameraden,

Weil wir im selben Schmutze waten –

Drob klagte schon der Schüler Virgils,

Der Dichter der Hölle und des Exils.


Ich denke mit Gram an die bessere Zeit,

Wo ich mit beflügelter Herrlichkeit

Im Heimatäther gegaukelt,

Auf Sonnenblumen geschaukelt,


Aus Rosenkelchen Nahrung sog

Und vornehm war, und Umgang pflog

Mit Schmetterlingen von adligem Sinn,

Und mit der Zikade, der Künstlerin –


Jetzt sind meine armen Flügel verbrannt;

Ich kann nicht zurück ins Vaterland,

Ich bin ein Wurm, und ich verrecke

Und ich verfaule im fremden Drecke.


Oh, daß ich nie gesehen hätt

Die Wasserfliege, die blaue Kokett'

Mit ihrer feinen Taille –

Die schöne, falsche Kanaille!«
[218]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 216-219.
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