18.

[111] Aus schlankem Kelch der hohen Vase steigen,

Von gelber Rosen zartem Samt umschmiegt,

Vier weiße Lilien, die sich himmlisch neigen,

Als sei für ewig alle Schuld besiegt.

Mir wird zu Sinn: ich höre leise Geigen,

Ein Engelstraum durch meine Seele fliegt:

Vier weiße Frauen, schwebende Gestalten,

Die in den schmalen Händen Lilien halten.


Sie grüßen mich, sie sind mir greifbar nahe:

Die Erste singt: »Sei Schönheit dein Geschick!«

Die Zweite: »Staubesblanken Glanz empfahe!«

Die Dritte: »Mild erschlossen sei dein Blick!«

Die Vierte: »Stolze Neigung ich bejahe.

Sieg im Besiegtsein!« Silbern tönt Musik.

Und alle drauf in seligem Quartette:

»Sei frei und rein! Leid löste deine Kette.«


Ein Zittern. Der Gestalten Linien schwinden,

Vier Kelche hauchen feinen Duft mir zu.

O könnt' ich ihrem Sinn Erfüllung finden

Und blühn in leuchtend hoheitsvoller Ruh!

Sie stehn so grad, kein Gärtner mag sie binden,

Vorbild für uns, Geliebte, Schwester du,

Bis wir im Garten dieser Welt erwarben

Staubfäden auch so goldorangefarben ...

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 111-112.
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