Lockung

[150] Manchmal geschieht's: in meiner Seele Spiegel

Fällt jäh ein lockender Flitterstein der Welt,

Unruhig zittern die gestörten Linien ...


»Geh, gib dem Trubel deine Stille preis!«

So gurgelt's, wo die Oberfläche kräuselt,

»Geh, mische dich dem rauschenden Gepräng!

Ich weiß ein Reich, wo rascher Ruhm dir lacht,

Ich weiß ein Reich, wo du der Ehren Kranz,

Den eine goldverbrämte Schöne pendelt,

Mit deinem kleinen Finger schon erhaschst

Und thronst in Pomp und Pracht vor allen Leuten.

Reizt es dich nicht, nach dieses Reiches Macht

Den kleinen Finger spielend auszustrecken?«

Manchmal geschieht's: in meiner Seele Spiegel

Fällt jäh ein lockender Flitterstein der Welt ...


Aus Tiefen kommt ein Ton, und eine große

Grundwelle wischt des Spiegels Störung fort.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 150-151.
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