Am Rhein ob Ragaz

[168] Winde kühl die Höh bestreichen

Ob des jungen Rheines Land,

Weiße Wolkenflöckchen schleichen

Müd an grauer Felsenwand.

Tal hat überwölkt sich leise,

Höchste Kuppe sacht verhüllt,

Senkrecht überm Strom die Kreise

Zieht ein Weih. – Sag, was erfüllt

Dich mit abendwolkenweichen

Stimmungen, die von den Höhn

Zu den flachen, windmühlreichen

Ebenen herniedergehn?

Bist auf wunderlicher Reise,

Und du selbst begreifst sie kaum,

Grubst dein Bett auf eigne Weise,

Suchst in Windungen dir Raum.

Muß dich öder Strecken Lauf bedrücken?

Bangt vor jäher Biegung dir das Herz?

Traubengold wird deine Ufer schmücken,

Festlich heitre Schiffe trägt dein Rücken

Durch begabte Gaue nordmeerwärts.[169]

Nebenwasser, die dein Wachstum sind,

Haben Berge rechts und links zerrissen –

Die sich schäumend durchs Gestein gebissen,

Die Tamina braust aus Finsternissen

Keck dir zu, ein ungestümes Kind.

Sahst du sie die schroffen Klüfte sprengen,

Wo aus Schatten Drachenleiber drohn?

Grüne Buchenwimpel turmhoch hängen

Ob der Schlucht, hellschimmernd wie ein Ton

Aus des süßen Lebens Lichtgesängen ...?

Ach, so fließe nur hernieder

Und erweitre deine Bahn,

Machtest du doch Felsenglieder

Deinem Willen untertan.

Gibst dem breiten Marktverkehre

Mit dem weiten Schoß dich hin,

Doch im Tiefland bis zum Meere

Wahrst du deiner Quellen Sinn.

Sprudeln wie am tollsten Tage,

Schäumen mög' es da und dort –

Trage, Strom der Seele, trage

Deine Jugend mit dir fort!

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 168-170.
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