Die alte Linde

[238] Süß duftet die alte Linde,

Die vor dem Wirtshaus blüht,

Wie mattes Gold ihre Krone

Vom Abglanz der Sonne glüht.


Der Werktag ging zur Rüste,

Heim wandert der Herde Geläut –

Brandet an ferner Küste

Der rasende Krieg noch heut?


Das Dorf verdämmert in Frieden,

Vom Kirchturm tönt wie Gebet

Die Feierglocke herüber,

Ein Hauch des Ewigen weht.


Leis spielen am nahen Gelände

Die ruhigen Wellen zum Strand,

Meine Seele faltet die Hände:

»O lösche den Weltenbrand!


Der reift das Brot auf den Feldern,

Der Blüten und Früchte gewährt,

Der an den Brüsten der Mütter

Die sprossenden Kindlein nährt ...
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Der in der Werkstatt schmiedet

Pflugschar und schönes Gerät,

Im Forscher unermüdet

Nach Heil und Segen späht ...


Du, der im Künstler ründet

Die edle Krone der Kraft,

Der Tempel baut und Brücken

Für Güter und Geister schafft ...


Nun lösche des Hasses Feuer,

Das heiliges Leben verbrennt,

Nun wehre bei allem, was teuer,

Dem höllischen Element!


Den zuchtlose Frechheit entzündet,

Den gottloser Wahnsinn entfacht,

Ziel sei dem Kriege verkündet

Und Friede den Menschen gebracht!«


Die Seele hebt ihre Hände

Zum Walter der Welten empor,

Leis rauschen vom nahen Gelände

Die friedlichen Wellen ans Ohr.


Die Sommernacht ist gekommen,

Die Linde ragt dunkel und sieht,

Wie, Wundertiefen entglommen,

Hell Gottes Sternheer zieht.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 238-240.
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