Morgengruß

[6] Tief getaucht in Sonnengluten

Ragt des Berges Haupt empor,

Lichtgewirkte Schleier fluten,

Niederwallt der Silberflor.


Hoch am Nacken seh ich schwellen

Süßer Trauben Perlenreihn,

Aus den Brüsten seh ich quellen

Milden, kraftgezeugten Wein.


Bäume schatten früchteprangend,

Vollbelastet deinen Fuß,

Frohen Blickes dich umfangend

Biet' ich dir den Morgengruß.


Sei gegrüßt, vom Morgenstrahle

Glanzumwobnes Vaterland!

Leuchtest auf mit einem Male,

Seit der Dämmrung Schatten schwand.


Mächtig wächst dein Haupt, erhoben

Zu des Lichtes Wunderquell,

Reicher Segen strömt von oben,

Und die Früchte reifen schnell.


Wie der Seele bittres Leiden

Deine Herrlichkeit versüßt!

Zukunftsahnend laßt mich scheiden –

Deutschland, Mutter, sei gegrüßt!

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 2: Buch des Kampfes, München 1921, S. 6-7.
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