Näherin im Erker

[34] Näherin im Erker,

Flieh aus deinem Kerker,

Flieh mit mir im Sonnenschein

In den grünen Wald hinein!


Schwüle zum Ersticken!

Nähen, plätten, flicken!

Wachsbleich wird dein jung Gesicht,

Nebeltrüb dein Augenlicht.


Ohne alle Freude

So von Kleid zu Kleide,

Ohne Lust und Heiterkeit

Hastig Naht an Naht gereiht.


Mädchentraum und -sehnen

Rinnt in heißen Tränen,

Rinnt auf Samt und Seiden dir,

Tröpfelt helle Perlenzier.
[34]

Näherin im Erker,

Flieh aus deinem Kerker,

Flieh mit mir im Sonnenschein

In den grünen Wald hinein!


»Dichter, geh alleine,

Geh im Sonnenscheine!

Näherin hat keine Zeit,

Näht ein schneeweiß Hochzeitskleid ...«

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 2: Buch des Kampfes, München 1921, S. 34-35.
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