O Mutter!

[130] O Mutter, wäre das Leben

Wie du so gut, so schön,

Mit lichtem Mantel schweben

Wollt' ich durch Tiefen und Höhn.


Auf meinem Haupte die Krone

Von sonnengoldnem Kristall

Säng' ich zu deinem Lohne

Lieder von silbernem Schall.


Der Menschen besänftigt Gewimmel

Lauschte in frommer Ruh,

Droben aus blauem Himmel

Nickte mir Jesus zu.


O Mutter, wäre das Leben

So schön und gut wie du –

Wir aber alle kleben

Am Staube immerzu.
[131]

Ihr Lieben, ich mußte singen,

Was in das Herz euch stach,

Schmach muß der Dichter bringen

Der Schande, Schande der Schmach.


Mit schönen Worten krönen

Will ich, was rein und echt,

Die Niedertracht zu höhnen,

Ist mir kein Wort zu schlecht.


Daß zu des Drachen Schaden

Mich schirme hürnene Haut,

Muß ich im Bad mich baden,

Davor mir selber graut ...


Ich muß durch Gassen gehen,

Die euer Fuß nicht kennt,

Und Dinge muß ich sehen,

Die euer Mund nicht nennt.


Und alles muß ich sagen,

Was Sinn und Seele schaut,

Nach Namen einzig fragen

Die Wahrheit, meine Braut.
[132]

Die hat ein leuchtend Auge,

Verklärt von tiefer Qual,

Aus seinem Urquell sauge

Ich neuer Schönheit Strahl.


Wenn ihr es säht, ihr reichtet

Mir froh versöhnt die Hand,

Der ich im Lied gebeichtet,

Was ich im Leben fand.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 2: Buch des Kampfes, München 1921, S. 130-133.
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