Doppelte Sehnsucht

[230] Über die moosige Tannenhalde

Streicht ein lauwarmer Regenwind –

Wartende Wolken, löst euch balde,

Pflanze dürstet und Menschenkind!


Trocken schmachtet alles entgegen

Eurer niederstürzenden Last –

Komm mit Rauschen, rettender Regen,

Diese Dürre versengt uns fast.


Will es täuschen? Will es verheißen?

Ist des Glutballs Bannkreis zu groß?

Könnte Sehnsucht an Wolken reißen,

Schütten würd' es aus schwangerm Schoß.


Wenn Sehnsucht an den Wolken reißen könnte,

Dann bräche wahrlich manches prasselnd los.

Der Mensch lebt nicht vom Brot nur. Elemente

Der Menschheit dürsten. Solcher Durst ist groß.
[231]

Wenn diese Sehnsucht in sich selbst verbrennte

Und fände nicht Erlösung! Erde, stoß

Den Schrei aus mit ingrimmigem Akzente:

Nach neuem Leben lechzt der Menschheit Los.


O, wir sind müd der alten Tyranneien,

Und wir verschmachten nach dem neuen Heil;

Das soll vom Fluch des Mammons uns befreien!


Wenn Herzen schon wie trockne Steine schreien,

Dann brennt die Sonne nicht mehr lange steil,

Und Wolkenrachen werden Ströme speien.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 2: Buch des Kampfes, München 1921, S. 230-232.
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