Der Altar der Barmherzigkeit

[60] Die Sage will uns irre führen,

Daß einst Prometheus von den Thieren

Dem Menschen dies und das erstahl.

Er schuf nach schönen Götterbildern,

Der Vorsicht Kunst darin zu schildern,

Im Menschen sich ein Ideal.


»Im Haupte soll die Pallas thronen;

Hier,« sprach er, »soll die Weisheit wohnen

Und zeig' im Blicke den Verstand.

Die Stirn sei Tempel der Gedanken;

Hier werd' erfunden, was in Schranken

Der Menschenstirn ein Mensch erfand.


Aurora soll auf seinen Wangen,

Auf seinen Lippen Suada hangen;

Der Zephyr fächle frischen Duft

Mit unbemerkbar leichtem Flügel

Zu diesem schöngewölbten Hügel;

Hier athme, Mensch, der Gottheit Luft!


Ich will, daß diese Geisteshöhe

Gebietend auf dem Thurmbau stehe,

Der über Thiere sich erhebt.

In dieser Brust soll Stärke thronen,[60]

Auf diesem Busen Liebe wohnen,

Empfindend, was im Menschen lebt.


Sein Arm soll Geisteskräfte regen,

Die schlanken Hände sollen wägen

Und wirken mit Behendigkeit.

Sein Schenkel steh', und seinen Rücken

Soll keines Atlas' Last erdrücken;

Dem Fuße geb' ich Schnelligkeit.


Und inwärts diesem Heiligthume

Stell' ich mir selbst zum ew'gen Ruhme

Der Fühlbarkeiten Wunder dar.

Hier soll mit tausend Leidenschaften

Erbarmen, Zorn und Sehnsucht haften,

Hier sei des Mitgefühls Altar.«


Er schuf das Herz. »Aus mächt'ger Quelle

Mit nie versiegter, reger Welle

Ström' hier des Lebens Ueberfluß.

In engen, schlaugewundnen Schranken

Ström' er dem Haupte zu Gedanken

Und allen Gliedern Wohlgenuß.«


Ich ehr', o Vorsicht, Dein Geschäfte,

Und Deinen Willen, Deine Kräfte

Stell' ich mir hocherhaben dar.

Jedoch verzeih dem schwachen Armen,

In diesem Tempel ist Erbarmen,

Ein Herz voll Liebe mein Altar.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 60-61.
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