Die Blume des Lebens

[64] (Nach einer bengalischen Melodie. Die Strophen fallen bei dem Da Capo, ohne Wiederholung der Worte, unmittelbar in einander.)


Sängerin.


Des Lebens Blume blühet schön,

Wenn sie der Morgen grüßt,

Wenn Weste freundlich um sie wehn,

Und Hoffnung sie entschließt;

Am Abend, matt umlaubt,

Neigt sie ihr zartes Haupt.


Chor.


Ihr Freunde, laßt den Morgen nicht

Im Schlaf vorübergehn!


Sängerin.


Des Lebens süße Blume blüht

In Jugend, Lieb' und Scherz,

Wenn Seele Seele zu sich zieht,

Sich schließet Herz an Herz.

Wie bald, wir ahnen's kaum,

Entflieht der holde Traum!


[64] Chor.


Ihr Freunde, kränzt mit Rosen Euch,

So lang die Rose blüht!


Sänger.


Des Lebens schönerer Gewinn

Ist ächter Freundschaft Band;

Sie knüpft, mit immer reinerm Sinn,

Vertrauend Herz und Hand.

Noch überm Grabe spricht

Ihr zart Vergiß mein nicht,


Chor.


Und winket uns, ein holder Stern,

Zu ew'gen Lauben hin.


Sängerin und Sänger.


Des Lebens schönste Blume reicht

Der Hoffnung stille Hand;

Die blühet, wenn sonst Alles bleicht,

In glänzendem Gewand;

In Freud' und Lieb' und Schmerz

Besänftigt sie das Herz.


Chor.


O Hoffnung, Du der Weisheit Kind,

Der nichts auf Erden gleicht!


Sängerin und Sänger.


Mit frohem Geiste weihen wir

Dir unsre reinste Lust;

Denn Lieb' und Freundschaft blühen Dir

An Deiner heil'gen Brust.

Der Tugend höchster Fleiß

Bist Du, der Siegespreis,


Chor.


Mit Nektar der Unsterblichkeit

Erquickend unsre Brust.


(Da capo.)


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 64-65.
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