Karl der Große

[284] 1770.


»War er, deutsches Vaterland,

Mörder Dir oder Heiland?«

Vieh und Heim, das war Dein Gut,

Und ein freies, edles Blut.


Er vergoß Dein freies Blut,

Nahm Dir Heim und Gut und Muth,

Und gab Dir – ha! Affentand,

Den nicht Lai', nicht Pfaff verstand!


Gab Dir Sitte! – Knechtes Muth,

Demuth! träges, schleichend Blut,

Wie dem Wurm in Wintergruft,

Eh ihn Lenz und Sonne ruft.


Gab Dir Sitt', und löschte aus

Tugend, warf in Staub und Graus

Deine Väter! Ahnenzeit!

Lobgesang der Ewigkeit!
[284]

Deine Sprache! Sieggewinn

War und Kampf Dir Eins nur! Sinn

Und Gefühl! Kraft und Verstand!

Wort und Herz und Geist und Hand


Dir nur Eins! Der Väter Schaar,

Ahnen, Adel, Götter! War

Mann und Hermann Dir nicht Gott,

Vorbild, Anbild in der Noth?


Mann ein Mann! Die edle Braut,

Kind und Heimath ihr vertraut,

Tochter Freia's! Ha, sie trat,

Eine Mana, in den Rath


Der Erkürer! Ha, da sang

Barde seinen Lobgesang

Lauter! Schwester Mana lacht

Lieblicher in ihrer Pracht


Auf der Schwester Angesicht

Nieder! schön und keusch! das Licht

Geht dem Barden auf! – Ach, ab

Bard' und Braut und Mann, ins Grab


Sind sie All' ersunken. – Noch

Will der Mörder Sterbhauch doch

Retten! – Nicht! – der Bardeklang

Wandelt! wird ihm Fluchgesang!


Fluch ihm! – Mörder war nicht werth,

Sie zu retten! Mörder fährt

Selbst hinnach, und all sein Reich

Wird, wie Deutschland, Wüste gleich!


Fromm und kahl und feist und Kind

Waren seine Söhne! sind

Alle würdelos! ihr Thron

Taumelt! und dort ahnt sie schon


Rache! Dort auf Meeres Sand

Nordens Deutsche! Vaterland[285]

Athmet Rache! Väterblut,

Ha, die schwarze große Fluth


Brauset! seufzet! – Gottes Buch

Ist erfüllt! – der Völkerfluch

Trifft! – da schreiet Deutschlands Blut,

Und sie tanzen hin die Fluth


Ihrer Rach'. Und unterthan

Ist schon All's dem Heuchlerbann:

Was auf Deutschland sie verhängt,

Hat sie nun hinunterdrängt,


Jammern! sterben! – Vaterland

Ist gerächt! – Ach, aber Land!

Oder Sund nur, Inselnschaar!

Giebt Dir das, was Dir einst war?


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 284-286.
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