1.

[195] Traurend tief saß Don Diego,

Wohl war keiner je so traurig;

Gramvoll dacht er Tag' und Nächte

Nur an seines Hauses Schmach.


An die Schmach des edlen alten

Tapfern Hauses der von Lainez,

Das die Inigos an Ruhme,

Die Abarcos übertraf.


Tief gekränket, schwach vor Alter,

Fühlt' er nahe sich dem Grabe,

Da indes sein Feind Don Gormaz

Ohne Gegner triumphiert.


Sonder Schlaf und sonder Speise,

Schläget er die Augen nieder,

Tritt nicht über seine Schwelle,

Spricht mit seinen Freunden nicht,


Höret nicht der Freunde Zuspruch,

Wenn sie kommen, ihn zu trösten;

Denn der Atem des Entehrten,

Glaubt' er, schände seinen Freund.


Endlich schüttelt er die Bürde

Los des grausam-stummen Grames,

Lässet kommen seine Söhne,

Aber spricht zu ihnen nicht;
[195]

Bindet ihrer aller Hände

Ernst und fest mit starken Banden;

Alle, Tränen in den Augen,

Flehen um Barmherzigkeit.


Fast schon ist er ohne Hoffnung,

Als der jüngste seiner Söhne,

Don Rodrigo, seinem Mute

Freud und Hoffnung wiedergab.


Mit entflammten Tigeraugen

Tritt er von dem Vater rückwärts;

»Vater«, spricht er, »Ihr vergesset,

Wer Ihr seid und wer ich bin.


Hätt ich nicht aus Euren Händen

Meine Waffenwehr empfangen,

Ahndet ich mit einem Dolche

Die mir jetzt gebotne Schmach.«


Strömend flossen Freudentränen

Auf die väterlichen Wangen;

»Du«, sprach er, den Sohn umarmend,

»Du, Rodrigo, bist mein Sohn.


Ruhe gibt dein Zorn mir wieder,

Meine Schmerzen heilt dein Unmut.

Gegen mich nicht, deinen Vater,

Gegen unsres Hauses Feind


Hebe sich dein Arm!« – »Wo ist er?«

Rief Rodrigo, »wer entehret

Unser Haus?« Er ließ dem Vater

Kaum, es zu erzählen, Zeit.[196]

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 195-197.
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