24.

[241] Lange führeten die Brüder,

König Sancho in Kastilien,

In Galizien Don Garzia,

An der Reiche Grenzen Krieg.

Endlich trafen sie zusammen;

Und von beiden Seiten fielen

Tapfre Männer, bis Don Sancho,

Sancho selbst gefangen ward.

Nahe wars, daß, der mit Unrecht

Krieg begonnen, ihn mit Schande

Endigte; denn unter allen

Streitenden war König Sancho

Wohl an Leibeskraft der Stärkste,

Doch der Feigeste an Mut.


Alvar Fañez, er, der erste

Freund des Cid, kaum sieht den König

Er gefangen, drängt er stürmend

An den Platz des Unglücks ein.

»Laßt den König, ihr Verräter!«

Ruft er wütend, und sie flohen,

Die harten Asturier.
[241]

Frei stand also König Sancho.

Doch die Schlacht, sie war verloren;

Übrig waren dem Befreiten

Kaum sechshundert Kastilianer.

Wie? Sechshundert Kastilianer?

Für die ganze weite Erde

Sind sie gnug, wenn Cid sie führt!


An kommt er. Auf seinem Rosse,

Als ihn Sancho kommen siehet,

Ruft er laut zu seinem Heer:

»Auf, von neuem in das Treffen!

Bald ist jetzt das Schlachtfeld unser,

Denn der Cid ist da! Willkommen,

Cid! Ihr kommt zu rechter Zeit.«


Ernst antwortet ihm Rodrigo:

»Und Ihr, Herr, zu sehr unrechter

Trafet Ihr auf diesen Platz.

Besser wäret Ihr am Grabe

Eures Vaters stehngeblieben,

Betend, mit gefaltnen Händen,

Als im ungerechten Kriege

Mit dem Bruder einzuernten

Eures Vaters harten Fluch.


Ungern nehm ich Don Garcia

Jetzt gefangen; für die Ehre,

Für den Dienst muß ich es tun,

Muß ihn nehmen oder sterben

Als ein Kriegsmann. Euch, o König,

Bringet hier in diesem Felde

Weder Sieg noch Niederlage

Ruhm; Euch schändet dieser Krieg.«


Eben trat Garcia singend

Auf den Kampfplatz, tief unwissend,[242]

Was geschehn war und geschah.

Stracks erklangen die Drommeten,

Die Drommeten und die Zinken;

Neue Brüderschlacht begann.


Und in Mitte seiner Edlen

Ward Garcia bald gefangen.


»Ach, was tut Ihr, edler Cid?«


»König, was für Euch ich täte,

Wenn Ihr mein Gebieter wäret.

Jetzt will es das Schicksal also;

Unterzieht Euch ihm, wie ich!«

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 241-243.
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