37.

[271] »Fliegt, getreue Boten, flieget

Zu Alfonso, meinem Bruder!«

Sprach Uraca. »Er vergisset

Seines Glückes in Toledo,

Da sein Glück ihn nicht vergißt.


Sagt ihm, daß der Feind nicht mehr ist,

Daß sein Bruder, Don Garcia,

Aus dem Kerker in das Grabmal

Seiner Ahnen wanderte.

Sagt ihm, daß die Kastilianer,

Die Asturier, die Leoner

Ihn erwarten, ihren König,

Wie die Schwester ihren Bruder,

Sagt es ihm und flieget schnell!«


»Was zu tun?« sprach Don Alfonso;

»Ali Maimon, dieser gute

Sarazene, tat mir Guts.

Was dem Flüchtling man erzeiget,

Tut man das auch einem König?

Ob mein neuer Stand dem Mauren

Wohlgefalle, weiß der Himmel.

Eines, weiß ich, ist mir nötig,

Mit Vorsicht geheime Flucht.«


»In der Rundung dieser Mauern

Ist ein Ort«, sprach der Gesandte,

»Niedersteigen wir zur Nacht.

Auf rückwärts beschlagnen Pferden

Eilen sicher wir davon.«
[271]

Angekommen in Zamora,

Zog Alfonso dann nach Burgos,

Und die Reichsversammlung sprach:

»Erbe seid Ihr aller Thronen

Unsres großen Don Fernando;

Niemand streitet sie Euch jetzt.

Aber, ohn Euch zu mißfallen,

Fodern wir von Euch den Eidschwur,

An dem Morde des Don Sancho

Teilgenommen nie zu haben,

Mittel- und unmittelbar;

Solchen Eidschwur uns zu leisten

Förmlich, wie es uns gefällt,

Und bekräftigen ihn zu lassen

Von zwölf Eurer Edelsten.«


»Dieser Wunsch sei euch gewähret«,

Sprach Alfonso; »morgen schwör ich

In der Kirche der Gadea

Vor dem heiligen Altar.

Heut begehr ich nur zu wissen,

Wer von euch mir diesen

Eidschwur Abzunehmen dann gedenkt?«


»Ich«, sprach Cid. –


»Ihr, Don Rodrigo?

Denket Ihr daran, daß morgen

Ihr ein Untertan mir seid?«


»Noch nicht! Daran werd ich denken,

Herr, wenn Ihr mein König seid.«

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 271-272.
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