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[256] Bay View, 18. August 1900.


Als ich heute früh erwachte, schien die Sonne strahlend in mein Zimmer; blinzelnd musste ich mich erst an den Glanz gewöhnen. Noch halb im Schlaf, hatte ich die Empfindung, dass etwas Wunderbares, Wunderschönes meiner warte – zuletzt ist mir als Kind so zu Mut gewesen, wenn ich am Weihnachtsmorgen erwachte und mich noch halb träumend erinnerte, dass nebenan im Wohnzimmer der Baum stände mit allen Geschenken. Nicht nur draussen schien aber heute früh die Sonne; nein, in mir selbst strahlte es von Glück und Seligkeit und auch an diesen Glanz musste ich mich erst blinzelnd gewöhnen – nach der langen Sorgennacht.

Die Welt ist schön, die Welt ist gut – weil Sie leben, liebster Freund! Was spricht man denn von irdischem Jammertal – ein blühender Garten ist's – Sie leben ja! Schmerz und Leid soll alles sein? Oh, es gibt so wonniges, tief inneres Glück – Sie leben ja! – Mir ist, als erwache ich erst der Welt, wie sie wirklich ist – meiner Welt – wie ich sie sehe – wie ich sie fühle. Die anderen Leute gehen herum, als sei nichts Besonderes vorgefallen – und es ist doch alles neu und anders[256] als bisher, und alles hat einen tiefen Sinn bekommen, ist verständlich geworden – denn Sie sind gerettet. Sie leben, Sie müssen leben.

Um das auszudrücken, was ich empfinde, fände ich keine eigenen Worte, kann nur wiederholen, was jener Grösste in Wort und Ton gedichtet: Winterstürme wichen dem Wonnemond! – Immer wieder klingt es in mir: Winterstürme wichen dem Wonnemond! – Ich weiss wohl, positivere Geister als ich würden darüber lächeln: Sie in Peking, ich hier am Atlantischen Ozean und – Wonnemond? Und es ist doch so, dieses Gefühl grenzenlosen Glücks, unendlicher Dankbarkeit.

Hat ein Gott die Menschen erschaffen, wie seit viel hundert Jahren den Kindern gelehrt wird, so sei Ihm Dank, dass er Sie geschaffen. Haben seit Äonen unbewusst wollende Zellen in dunklem Triebe sich so gefügt, dass schliesslich der Mensch erstand, so sei Dank jenen unendlich Kleinen, aus denen Sie wurden! Mein Gottesgeschenk, mein Weltenwunder! Was liegt an Namen und Glauben! Empfindung ist alles, was wir wissen – Winterstürme wichen dem Wonnemond![257]

Quelle:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 256-258.
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