9.

[501] Der Mond blitzt durch die Fensterscherben

Ums dunkle Dachwerk pfeift der Wind,

Und Nachbars Lieschen liegt im Sterben

Und ihre Mutter weint sich blind.

Das Haar gebleicht von tausend Sorgen,

Im dünnen Kleidchen von Kattun,

Erwartet sehnlich sie den Morgen,

Der Apotheker will nicht borgen,

Der Doktor hat »zu viel zu thun«!


Der Märznacht goldne Sterne scheinen,

Ihr Himmel deckt uns alle zu:

Hör auf, du Mütterchen, mit Weinen,

Dein Kind ist besser dran, als du!

Es braucht nicht nähend mehr zu sputen

Sich spät bis in die Nacht hinein,

Und wenn die Lüfte sie umfluthen

Und roth die Rosen wieder bluten,

Spielt um sein Grab der Sonnenschein![501]


Die Noth im löchrigen Gewande

Zertritt die Perle der Moral;

Das Loos der Armuth ist die Schande,

Das Loos der Schande das Spital!

Ja, jede Grossstadt ist ein Zwinger,

Der roth von Blut und Thränen dampft;

Drum hütet euch, ihr armen Dinger,

Denn diese Welt hat schmutzge Finger –

Weh, wem sie sie ins Herzfleisch krampft!


Da horch! ein langgezognes Stöhnen

Und jetzt ein wilder, geller Schrei!

Was thut's? Man muss sich dran gewöhnen!

Hier hiess es wieder mal: Vorbei!

Schon übermorgen karrt der Racker

Das arme Mädchen vor die Stadt,

Und niemand kennt den Todtenacker,

Darauf beim öden Sterngeflacker

Ein Herz sein Glück gefunden hat![502]


Quelle:
Arno Holz: Buch der Zeit. Berlin 21892, S. 501-503.
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