Auf einem Schreibtisch

[79] Auf einem Schreibtisch, / neben einem grünverhangenen Fenster, durch das die Sonne scheint, / zwischen zwei Büsten aus Bisquitporzellan, rechts »die Kunst«, links »die Wissenschaft«, / liegen in einem marmorirten Pappdeckel, den ich selbst geklebt habe, / meine ersten Gedichte. // Vor ihnen, / in seinem Lutherstuhl, / im rotplüschnen Schlafrock, unrasiert, die Finger in seiner riesigen Fliege, / mein lieber, alter, väterlicher Freund, Herr Fiebig. // »Klinginsherz!« // Mein erstes Werk – mein erster Kritiker. // Ich sitze da. // Ueber der kleinen Schreibzeugvenus aus Cuivre poli / die drei Alabastergrazien als Briefbeschwerer, / dahinter in goldbedruckten Prachtbänden, deren Titel mich immer so anziehn, / »Die Wunder der Zeugung«, »Liebe und Ehe«, »Der Mensch und sein Geschlecht«, / und drüben – zwischen den beiden Schweizerlandschaften – nahezu lebensgross, / die badende Oeldrucknymphe: / eine blendende Brust, ein sinkendes Tuch, ein errötendes Lächeln, / Schenkel, wie aus einem Schlächterladen! // Meine bedrängten Augen irren angstvoll weiter. // Was wird er sagen? // Sein Daumen, nass gemacht, dreht schon die letzte Seite! // Ein leeres Papageienbauer, ein Bücherspind, Ariadne auf Naxos, / in einem ovalen Alfenidschälchen, gleich obenauf, die Visitenkarte des Hausherrn: / »Redakteur des Herzblättchen, Zeitschrift für Neuvermählte!« // Weiter! Oben die Decke! Auch dort! // Zwischen Veilchen, Rosen und Vergissmeinnicht, / auf einem Tintfass, /ein dicker, fleischfarbner Amor, / der, umspielt von Schmetterlingen, mit einer Pfauenfeder in ein Buch schreibt: / »Ohne Liebe gleicht das Leben einer Rose ohne Duft!« // Und ich fühls: / ich bin über und über rot geworden![79]

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Arno Holz: Phantasus. Stuttgart [1978], S. 79-80.
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Phantasus: Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung
Schönes, grünes, weiches Gras /Trawa zielona, mieekka, cudna: Gedichte aus