Betrachtung über das Urtheilen der Menschen von andern/ nach Anleitung des Kempis in seiner Nachfolge Christi

[177] Dein Auge wend' auf dich/ ich mein' auf deine Sünden/

Auf deine Schwachheit selbst/ und was an dir zu finden.

Erklär' in bösen nicht diß was dein Nechster thut/

Schau nicht/ ob andre schlimm/ nein ob du selber gut.

Die Mühe bleibt umsonst/ in solchen Urtheil fällen/

Man irrt und kan sich offt/ was falsch/ vor Augen stellen.

Und deßen Zunge stets ein kühnes Urtheil spricht/

Den stellt sein böses Hertz vor Gottes Zorn-Gericht.

Erbaulich aber ist/ sich selber anzusehen/

In Demuht in sein Hertz/ sein eigen Hertz zugehen.

Zuschauen was uns fehlt/ welch Laster uns gemein.

Sein eigner Kenner erst/ denn Richter auch zu seyn.

Woher mag aber doch ein schlimmes Urtheil rühren?

Aus Liebe/ denn ich möcht ihn gern zum guten führen/

So spricht des Tadlers Mund; doch fühlt sein Hertz hierbey/

Wie kalt die Lieb' in ihm/ wie heiß die Feindschafft sey.

Wie/ daß man andere unordentlich will nennen/

Da Sinnen und Gemüht die Ordnung selbst nicht kennen?

Mit einem Krancken komt ein Neider überein/

Dort ist der Leib zuschwach/ hier der Verstand zu klein.

Wenn unsre Meinung gut/ und nur auf Gott gerichtet/

Wenn man so himmlisch ist/ daß man sich selbst zernichtet/

Die weil man Erd und Staub/ so wird man nicht so leicht/

Bey fremder Tadelsucht vom Brand des Zorns erreicht.

Allein so sind wir nicht/ und andere desgleichen.

Die Neigung/ die sich muß in unsre Hertzen schleichen/

Ein Gegenstand/ so uns von außen an sich zieht/

Das ist der Grund/ aus dem man jedes Urtheil sieht.

Die meisten meinen zwar/ sie kennten ihr Gewißen/

Daß sie kein eintzigmahl zu prüfen sich beflißen.[178]

Sie dencken: sind wir nur in allem wohl beglückt/

So sey der Seelen Fried in ihre Brust gerückt

Allein/ wenn Sturm entsteht/ wenn die Verdrießlichkeiten/

Die ein Gerücht erweckt/ zu ihren Ohren schreiten/

So dringt ein jedes Wort/ das ihren Ruhm verletzt/

Ins Hertz als wär es da in Marmor eingeätzt.

Inzwischen aber wird nur andern bey gemeßen/

Daß sie unruhig sind/ daß sie der Haß beseßen.

Ihr Seelen-Friede spricht nicht eher wieder ein/

Biß/ welch Gewißen doch/ sie vorgerochen seyn.

Ach Herr/ wer hat die Schuld/ wenn uns die Unruh plaget?

Nur der Begierden Macht/ die unsre Hertzen naget.

Glückseelig/ welcher nicht nach seinem Willen thut;

Und deßen wohl in Gott/ und keinem Menschen ruht.

Wer lange Zeit gewohnt nach seinem Sinn zu leben;

Der findet viele Müh/ ihm recht zu wiederstreben;

Wer wieder Willen soll auf andern Wegen gehn/

Der läßet viel Verdruß bey seiner Leitung sehn.

Ein Himmlisch Feuer soll die kalten Hertzen nehren.

Herr deine Flamme muß die Eigen-Lust verzehren.

Es hebt uns deine Hand/ sind wir dir unterthan/

Weit über die Vernunfft/ weit über allen Wahn.


Quelle:
Christian Friedrich Hunold: Menantes Academische Nebenstunden allerhand neuer Gedichte, Halle/ Leipzig 1713, S. 177-179.
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