Dem Sonnengott

[254] Wo bist du? trunken dämmert die Seele mir

Von aller deiner Wonne; denn eben ists,

Daß ich gesehn, wie, müde seiner

Fahrt, der entzückende Götterjüngling


Die jungen Locken badet' im Goldgewölk;

Und jetzt noch blickt mein Auge von selbst nach ihm;

Doch fern ist er zu frommen Völkern,

Die ihn noch ehren, hinweggegangen.


Dich lieb ich, Erde! trauerst du doch mit mir!

Und unsre Trauer wandelt, wie Kinderschmerz,

In Schlummer sich, und wie die Winde

Flattern und flüstern im Saitenspiele,


Bis ihm des Meisters Finger den schönern Ton

Entlockt, so spielen Nebel und Träum um uns,

Bis der Geliebte wiederkömmt und

Leben und Geist sich in uns entzündet.

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Stuttgart 1946, S. 254-255.
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