Der Main

[299] Wohl manches Land der lebenden Erde möcht

Ich sehn, und öfters über die Berg enteilt

Das Herz mir, und die Wünsche wandern

Über das Meer, zu den Ufern, die mir


Vor andern, so ich kenne, gepriesen sind;

Doch lieb ist in der Ferne nicht Eines mir,

Wie jenes, wo die Göttersöhne

Schlafen, das trauernde Land der Griechen.


Ach! einmal dort an Suniums Küste möcht

Ich landen, deine Säulen, Olympion!

Erfragen, dort, noch eh der Nordsturm

Hin in den Schutt der Athenertempel


Und ihrer Götterbilder auch dich begräbt;

Denn lang schon einsam stehst du, o Stolz der Welt,

Die nicht mehr ist! – und o ihr schönen

Inseln Ioniens, wo die Lüfte


Vom Meere kühl an warme Gestade wehn,

Wenn unter kräftger Sonne die Traube reift,

Ach! wo ein goldner Herbst dem armen

Volk in Gesänge die Seufzer wandelt,


Wenn die Betrübten itzt ihr Limonenwald

Und ihr Granatbaum, purpurner Äpfel voll,[300]

Und süßer Wein und Pauk und Zithar

Zum labyrinthischen Tanze ladet –


Zu euch vielleicht, ihr Inseln! gerät noch einst

Ein heimatloser Sänger; denn wandern muß

Von Fremden er zu Fremden, und die

Erde, die freie, sie muß ja, leider!


Statt Vaterlands ihm dienen, solang er lebt,

Und wenn er stirbt – doch nimmer vergeß ich dich,

So fern ich wandre, schöner Main! und

Deine Gestade, die vielbeglückten.


Gastfreundlich nahmst du, Stolzer! bei dir mich auf

Und heitertest das Auge dem Fremdlinge,

Und still hingleitende Gesänge

Lehrtest du mich und geräuschlos Leben.


O ruhig mit den Sternen, du Glücklicher!

Wallst du von deinem Morgen zum Abend fort,

Dem Bruder zu, dem Rhein, und dann mit

Ihm in den Ozean freudig nieder!

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Stuttgart 1946, S. 299-301.
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