An einen Knaben

[27] Wohl dir, dem noch der bleiche Mund

Der Amme Lieder singt,

Den noch der kleine Schlummergott

In Schwanenarme schlingt.


Wohl dir, dein kleiner Busen kennt

Den Flitterprunk der Welt,

Und Amorn nicht, den losen Gott,

Der schlaue Netze stellt.


Doch bald entfliegt, mit Adlerflug,

Die süße, goldne Zeit,

Die Tag und Nacht der sanfte Schlaf

Mit Mohnlaub überstreut.


Dann plagt ein mürrischer Pedant

Dein Köpfchen mit Latein,

So sehr Mamachen auf ihn schmählt,

Bis in die Nacht hinein.


Du fluchst dem ehrlichen Terenz

Noch oft in seiner Gruft,

Wenn er von deinem Steckenpferd

Dich in die Schule ruft.


Du wünschest oft, wenn Cicero

Dein süßes Spiel verrückt,

O hätt er doch, der böse Mann,

Das Tagslicht nie erblickt.


Ruh sanft, so lange dir das Lied

Der Amme noch erschallt,

Die süße Morgendämmerung

Der Kindheit fliehet bald.
[27]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 27-28.
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