Klage eines Mädchens
über den Tod ihres Geliebten

[185] Aus den Zeiten der Kreuzzüge


Ein banger Traum erschreckte mich,

O würd' er nie erfüllt!

Sobald der Schlummer mich beschlich,

Erschien mir Wilhelms Bild.

Ein Nachtgespenst, das auf der Gruft

Im Todtenhemde sitzt!

Sein Haar flog blutig in die Luft,

Die Brust war aufgeschlitzt.


Blut floß ihm durch das Grabgewand,

Wie eine Purpurflut.

Er nahm des Blutes in die Hand,

Und zeigte mir das Blut.

Sein blutend Herz, als sucht' es mich,

Schlug dreymal hoch empor,

Und dreymal flog es sichtbarlich

Aus seiner Wund' hervor.


Doch plötzlich floß ein Lächeln ihm

Ins traurige Gesicht;

Er sprach, als sprächen Seraphim:

Geliebte, weine nicht!

Es war kein leeres Nachtgebild,

Was mir im Traum erschien;

Die Saracenen, kühn und wild,

Die, die zerfleischten ihn!
[185]

Wo Jesus Christus uns versühnt,

Da modert sein Gebein!

Rausch sanfter, wo sein Hügel grünt,

Rausch sanfter, Palmenhain!

Die Seele ruht in Christus Hand,

In deßen Dienst' er fiel.

Er starb in des Erlösers Land,

Und Sterben war ihm Spiel.


Drum lohne dich der Palmenkranz,

Den Jesus dir verhieß;

Drum tanze mit den Engeln Tanz

In seinem Paradies.

Bald folget dir, in Gottes Ruh,

Dein armes Mädchen nach,

Und schlummert süßen Schlaf, wie du,

Bis an den jüngsten Tag.
[186]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 185-187.
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