Elegie

[190] Bey dem Grabe meines Vaters


Selig alle, die im Herrn entschliefen;

Selig, Vater, selig bist auch du!

Engel brachten dir den Kranz, und riefen;

Und du gingst in Gottes Ruh.


Wandelst über Millionen Sternen,

Siehst die Handvoll Staub, die Erde, nicht;

Schwebst, im Wink, durch tausend Sonnenfernen,

Schauest Gottes Angesicht!


Siehst das Buch der Welten aufgeschlagen,

Trinkest durstig aus dem Lebensquell;

Nächte, voll von Labyrinthen, tagen,

Und dein Blick wird himmelhell.


Doch in deiner Überwinderkrone

Senkst du noch den Engelblick auf mich;

Betest für mich an Jehovahs Throne,

Und Jehovah höret dich.


Schwebe, wann der Tropfen Zeit verrinnet,

Den mir Gott aus seiner Urne gab,

Schwebe, wann mein Todeskampf beginnet,

Auf mein Sterbebett' herab!


Daß mir deine Palme Kühlung wehe,

Kühlung, wie von Lebensbäumen träuft;

Daß ich sonder Graun die Thäler sehe,

Wo die Auferstehung reift.
[190]

Daß ich mit dir durch die Himmel schwebe,

Wonnestrahlend, und beglückt, wie du;

Und auf einem Sterne mit dir lebe,

Und in Gottes Schooße ruh!


Grün' indeßen Strauch der Rosenblume,

Deinen Purpur um sein Grab zu streun;

Schlummre, wie im stillen Heiligthume,

Hingesäetes Gebein!
[191]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 190-192.
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