Siebenzehntes Kapitel

[146] Um Flämmchen hatte er sich seither wenig bekümmert. Sie zeigte nach dem mystischen Abende eine heftige Neigung zu Wilhelmi, und schien die Hoffnungen ihres Wahnglaubens auf ihn gesetzt zu haben. Wo er ging und stand, suchte sie ihm zu dienen, und war endlich durch Dreistigkeit und unermüdliches Verfolgen dahin gelangt, daß ihr Wilhelmi erlaubte, einen Teil des Tages bei ihm im Archive zuzubringen, wo er sich im Schweiße seines Antlitzes bemühte, Ordnung zu stiften, soviel dies möglich war, denn die Eigenheiten des Herzogs legten ihm große Schwierigkeiten in den Weg. Flämmchen durfte ihm dabei zur Hand gehn, sie brachte ihm die Akten und Skripturen zu, versah sie mit Papierstreifen und was dergleichen mechanische Dinge mehr sind, welche bei einer Arbeit dieser Art so vielfach vorkommen. Wilhelmi fand sie in allem, was er ihr auftrug, äußerst brauchbar; er gewann den muntern bildschönen[146] Knaben lieb, und sprach eines Tages gegen Hermann die Bitte aus, ihm den Jungen ganz zu überlassen.

Dieser geriet hierdurch in eine große Verlegenheit. Er sah zwar, daß sein Freund wirklich, wie der Arzt sagte, blind für alles Nächste war, allein irgendeine Unbesonnenheit Flämmchens konnte ihm dessen ungeachtet mit jedem Tage gewaltsam die Binde von den Augen reißen. Er kannte Wilhelmis strenge Grundsätze, und wenn er auch hoffen durfte, diese durch einen wahrhaften Bericht zu beschwichtigen, so mußte er doch von dessen Hange, alles gleich auf die Spitze zu stellen, den schlimmsten Verrat fürchten. Sein Aufenthalt im Schlosse war ihm ohnehin verleidet, er nahm sich daher kurz und gut vor, zu reisen, und den ihm empfohlnen Pädagogen um Erlösung aus seiner seltsamen Not zu bitten.

Indessen mußte in der Zwischenzeit für sie gesorgt werden. Trotz seiner Abneigung gegen den Arzt, die zuletzt fast in Verachtung übergegangen war, sah er sich gezwungen, mit diesem über ihre vorläufige Unterbringung zu verhandeln.

Der Arzt empfing ihn zwischen seinen Elektrisiermaschinen und Spirituspräparaten höflich, als sei nichts vorgefallen. Er wußte gleich Rat. »Sie soll«, sagte er, »solange Sie abwesend sind, zu meiner alten Kräutersammlerin gebracht werden, und wir wollen sofort mit dieser die Sache richtig machen.«

Sie ritten auf Wegen, die Hermann noch nie betreten hatte, durch ein wüstes Hügelland, und kamen in ein abgelegnes Tal, welches, obgleich in geringer Entfernung von menschlichen Wohnplätzen, den Charakter völliger Einsamkeit zeigte. Freilich waren die Pfade, die hineinführten, die schlechtesten, sie hatten sich mehrmals genötigt gesehen, abzusteigen, und ihre Pferde hinter sich herzuleiten. Ein Bach floß hindurch; an demselben zwischen alten Rüstern stand die Hütte der Alten, gegen den Stamm der einen gelehnt.

Die Alte kroch zwischen den Klippen umher, und sammelte Pflanzen. Vor sich hatte sie ein blendendweißes Tuch ausgebreitet, auf welches sie die grünen Sprossen und Blätter mit Bedachtsamkeit legte. »So fleißig, Mutter?« rief sie der Arzt an; »habt Ihr gesucht, was ich haben wollte?« – »Nur der Waldmeister fehlt noch«, versetzte die Alte in ihrer gebückten Stellung[147] und ohne sich stören zu lassen, »sonst ist alles da, was Sie befohlen.«

»Laßt es jetzt sein, und kommt herunter zu uns, wir haben mit Euch etwas auszumachen«, sagte der Arzt.

Ungern schien sie sich von ihrem Geschäfte zu trennen. Sie pflückte erst noch einige Blumen ab, band jede Spezies, behutsam nur den Stengel berührend, mit Halmen in gesonderte Bündelchen, faßte das Tuch locker bei den Zipfeln, und kam, ihr Gewand vorn zusammennehmend, ohne aufzusehen, von den Felsen herab. »Sie sind heute recht frisch und kräftig«, sagte sie, das Tuch oben etwas lupfend; »damit sie nichts verlieren, will ich sie gleich in den Keller legen.«

Der Arzt hielt sie zurück, und eröffnete ihr seinen Wunsch. Er fragte sie, ob sie ein junges Mädchen, welches er ihr zubringen werde, gegen gute Bezahlung auf einige Wochen hinnehmen wolle? Sie machte eine ehrerbietige Bewegung mit der Hand und rief: »Sie sind mein Herr und Gebieter. Ich werde die, welche Sie mir bringen, wie mein Kind aufnehmen.«

Als Hermann das Gesicht der Alten betrachtet, und ihre Stimme gehört hatte, stieg in ihm eine Vermutung auf, die ihn unruhig machte. Um Gewißheit zu erlangen, fragte er den Arzt auf dem Heimritte über sie aus.

Dieser erzählte, daß er sie im Spätsommer des verwichnen Jahrs kennengelernt habe. Sie sei als Zigeunerin mit einem Trupp verlaufnen Gesindels durch den Flecken transportiert worden, habe wegen Krankheit liegenbleiben müssen, Hülfe begehrt, und so sei er zu ihr geführt worden. »Die Reden dieser Person«, fuhr er fort, »erregten meine Aufmerksamkeit. Sie beschrieb mir ihre Leiden, und den Sitz derselben, die Milz, mit einer solchen Deutlichkeit, daß ich daraus schließen mußte, sie sehe gewissermaßen das Organ und seinen Zustand. Ich folgerte hieraus eine eigentümliche Stärke der sinnlichen Erregtheit, setzte diese Wahrnehmung mit ihrem Gewerbe zusammen, und da es eine meiner Grundüberzeugungen ist, daß jede Abnormität auf einer natürlichen Anlage beruht, so faßte ich den Vorsatz, aus einer verworfnen Herumtreiberin womöglich ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu machen.[148]

Zur Probe hielt ich ihr meine Hand hin; sie sah weniger auf diese, als in mein Gesicht und sagte: ›Ihr wollt mich versuchen.‹ Ich bemerkte, daß sie mit einem unendlichen Scharfblick für alles Körperliche ausgerüstet war, aus den Lineamenten die geheimsten Seelenregungen las, und mit diesen Kräften, durch Elend und Dürftigkeit gezwungen, auf Prophezeien und Quacksalbern verfallen war, während sie unter günstigen Umständen vielleicht eine berühmte Frau geworden wäre. Ich öffnete ihr die Augen über sich, sagte ihr, daß ich ihr helfen wolle, wenn sie folgsam sei, und fand Zutraun.

Meine homöopathischen Kuren, welche ich, wo die Konstitution dieses Verfahren rechtfertigt, zuweilen vornehme, erfordern Mittel, zu welchen die Substanzen mit der äußersten Sorgfalt eingesammelt werden müssen. Niemand hatte mir bis dahin die Sache zu Dank machen können; ich war genötigt gewesen, selbst stundenlang die Halme und Binsen aus dem eigentlich Brauchbaren zu lesen, um nicht nach großer Mühe noch endlich einen verfälschten, groben Saft durch die Extraktivpresse zu gewinnen. Ich beschloß, mit der Alten einen Versuch anzustellen, und er ist vollkommen gelungen. Als sie von ihrem Lager erstanden war, lehrte ich sie Botanik d.h. soviel davon zu ihrem Geschäfte nötig schien, mietete ihr das Häuschen in dem Hügelkessel, welcher die seltensten Pflanzen weit in die Runde trägt, und schickte sie auf das Suchen aus. Sie hatte mich wunderbar schnell begriffen, ja sie trug die Kunde, welche ich ihr beibringen wollte, sozusagen, schon vollständig, nur unentwickelt, in sich. Sie hat sich mit dem Pflanzenreiche gleichsam identifiziert, entdeckt, was nur entdeckt werden kann, verfährt mit einer Genauigkeit, die Sie selbst zum Teil haben bemerken können, und leistete mir im vorigen Herbste, sowie in diesem Frühjahre schon die wesentlichsten Dienste. Anfangs fürchtete ich für den Winter, weil ich nicht wußte, womit ich sie während desselben beschäftigen sollte. Aber die Natur half auch hier, wie gewöhnlich, aus. Sie verfiel nämlich zu meinem Erstaunen in einen Schlaf, welcher der Erstarrung mancher Tierarten ganz ähnlich war, und aus dem sie oft nur je um den zweiten Tag zu einem Halbbewußtsein erwachte, in dem sie dann wie träumend für ihre Bedürfnisse sorgte, um[149] sich, nachdem diese abgetan waren, wieder auszustrecken. Ich glaube, daß eine furchtbare Krankheit, die, wie ich aus einzelnen Reden geschlossen habe, selbst bis zum Scheintode geführt hat, dergestalt ihre Lebenskraft schwächte, daß diese nur während der warmen Jahreszeit vorhält, und sich, sobald es kalt wird, als Fünkchen in das Innere des Organismus zurückzieht. So gewährt sie mir noch nebenbei ein merkwürdiges Studium.«

Hermann entdeckte ihm, daß er die Alte für dieselbe Person halte, welche er schon einmal im Walde gesehen, und welche Flämmchen gewahrsagt habe. Er äußerte seine Besorgnis vor den Folgen, wenn man beide wieder zusammenbringe. Der Arzt teilte dieselbe aber nicht, sondern sagte: »Sie wird eher heilsam auf das Kind wirken, denn sie hegt den größten Abscheu vor ihrem ehemaligen Gewerbe, und bereut, wie sie sich ausdruckt, jeden Augenblick, wo sie in die Hand und in das Antlitz der Menschen gesehen, seitdem sie erfahren, wieviel Gott auf die Blätter der Pflanzen geschrieben hat.«

Er erbot sich, Flämmchen, wenn Hermann abgereist wäre, unter einem Vorwande von Wilhelmi zu entfernen, und jener mußte wohl nachgeben, da er keinen andern Ausweg wußte.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 146-150.
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