Fünftes Kapitel

[243] Der Arzt, welcher von Zeit zu Zeit einsame Spazierritte nach Flämmchens Verstecke machte, um sich über ihren Zustand aufzuklären, hatte es dem beharrlichen Andringen des Domherrn[243] endlich doch nicht versagen können, sie wenigstens ihm zu zeigen. Vorher mußte aber der launische Mann eine Verschreibung ausstellen, wodurch er sich anheischig machte, eine bedeutende Summe einzubüßen, wenn er das Mädchen zu sich nähme, und sie dann auf das Geratewohl wieder entließe. Dieses Papier unterschrieb er ohne Zaudern, denn er glaubte fest an die Beständigkeit seiner Entschlüsse, obgleich er, wie wir wissen, darin täglich wechselte.

Es war zu Ausgang Mais, und ein wunderschöner Mondabend. Der Arzt hatte vorgeschlagen, zu reiten, jedoch bei seinem Freunde kein Gehör gefunden, welcher die Gefahr der Erkältung vorschützte und anspannen ließ. Jener wunderte sich, daß verschiedne Sachen, die man auf dieser kurzen Fahrt nicht gebrauchte, in den Wagen getragen wurden.

Man konnte mit dem Wagen nur bis zu einer gewissen Entfernung von der Hütte der Alten vordringen, und hatte noch eine starke Viertelstunde zu gehn. Der Domherr sagte dem Kutscher etwas ins Ohr, und machte sich dann mit dem Arzte auf den Weg. Dieser erzählte seinem Begleiter, um ihn auf den Anblick, der seiner wartete, vorzubereiten, was er von der Alten gehört hatte. Das Mädchen war nach dem ersten Erstaunen über das Wiederfinden ihrer Zigeunerin in einen sonderbaren Zustand verfallen. In der Einsamkeit zwischen Waldeichen, Klippen und Bachwellen machte sie gewissermaßen zum ersten Male die Bekanntschaft der Natur, und der Eindruck, den diese Gewaltige auf einen halbreifen Geist, der, wie der Arzt sich ausdruckte, eigentlich nur Phantasie war, hervorbrachte, war sehr stark. Sie ging, wie eine Träumende umher, führte Gespräche mit den Bäumen und Steinen, und war dann oft wieder wie erstarrt. Gleichzeitig traten bei ihr gewisse körperliche Erscheinungen ein, die sie sehr angreifen mußten, denn sie begann an Konvulsionen zu leiden, welche die Alte besorgt machten, daß daraus eine Art von Veitstanz entstände. Letztre verschwieg indessen ihrem Beschützer alles dieses, weil sie befürchtete, er möchte ihr das Kind wegnehmen, zu welchem sie, nachdem sie ihm einmal tief in die Augen geschaut, eine unbezwingliche Neigung gefaßt hatte. Sie behandelte ihren Pflegling mit Kräutern und Tränken, und hatte die[244] Freude, ihn bald hergestellt zu sehn. Es entwickelte sich nun etwas an dem Mädchen, was niemand hatte vorausahnen können, nämlich eine Neigung, oder – denn dieses Wort sagt viel zuwenig – eine unwiderstehliche Notwendigkeit, zu tanzen.

Als das Mondlicht kam, ging Flämmchen eines Abends fort, und wurde von der Alten, die ihr nachgeschlichen war, auf einer Felsenplatte in den wundersamsten Bewegungen angetroffen. Diese wiederholten sich seitdem alle Abende, und nun, da das Mädchen wieder gesund ward, erhielt erst der Arzt vom Vorgefallenen Kunde. »Es ist«, sagte er, »als habe ihr Organismus alle Schrecken abschütteln, und zugleich ein geheimes Gesetz der Schönheit, welches lange in dem armen verlaßnen Kinde geschlummert, entfalten wollen.«

Unter dieser Erzählung waren sie aus dem Dickicht auf einen frei hervorspringenden Hügel getreten. Der Domherr, welcher immer einige Schritte vorausgehabt hatte, stand plötzlich still, und rief mit gedämpfter Stimme: »Was ist das?«

Der Hügel verlief in ein glattes, grades, ziemlich geräumiges Felsenstück. Auf dieser natürlichen Bühne schritt Flämmchen umher, in den Vorbereitungen zu ihrem Tanze begriffen. Die Nacht war taghell, so daß man alles genau sehen konnte, die Entfernung so gering, daß kein Laut verlorenging. Beide Männer drückten sich hinter einen Stamm; seitwärts zwischen den Kanten eines ausgezackten Gesteins wurde der schwarzbraune Kopf der Alten sichtbar, die, am Boden zusammengekauert, gleichfalls horchte und lauschte.

Einen Kranz auf dem Haupte, und einen in jeder Hand haltend, schritt das Mädchen gemessen, fast feierlich, erst rund um die Felsenplatte, als vollziehe sie die Weihe des Orts. Dann in die Mitte sich stellend, wandte sie ihr glänzendes Antlitz gegen den Mond, und begann nun, immer seiner leuchtenden Scheibe zugekehrt, ihren ausdrucksvollen Tanz. Bald neigte sie sich ihm mit zärtlicher Gebärde entgegen, bald schien sie vor ihm verstellterweise zu fliehn, jetzt hob sie den einen, dann den andern Kranz lockend empor, darauf ließ sie beide sinken, verwechselte sie, warf sie in die Luft, daß sie dort Bogen beschrieben, und fing sie jederzeit gewandt und zierlich wieder auf, während Füße und Leib ihr anmutiges Spiel fortsetzten. Der[245] Sinn dieses Tanzes war ein liebliches Gedicht; der kalte hohe Freund da oben, sollte zur Erde herabgezogen werden, mit welcher er einst in größerer Vertraulichkeit gelebt habe, und auf der jede Sehnsucht nur eine Erinnrung an diese schöne Liebeszeit sei. Was ihre Bewegungen an diesem Mondscheinmärchen noch dunkel ließen, deuteten Strophen aus, die sie dazwischen absang, und womit sie sich den Takt anzugeben schien. Sie hatten alle ein gewisses Metrum, bestanden aber oft nur aus abgebrochnen Worten, deren Verbindung die Zuhörenden ergänzen mußten. Die Alte gab zuweilen in einer fremden Sprache, welche weder der Arzt, noch der Domherr verstand, eine Art von Refrain zu vernehmen.

Der Domherr war wie außer sich. Trotz aller Verkehrtheiten, welche diesem Manne anklebten, mußte man ihm wenigstens einen zarten Sinn für das Schöne, besonders der phantastischen Gattung, zugestehn. Er seufzte, drückte dem Arzte die Hand; dieser sah, daß Tränen aus seinen Augen flossen. »Ist es nicht«, sagte der Domherr leise, »als sei die alte Fabel wieder jung geworden, und schaue uns Spätlinge mit entzückenden Kindesaugen an? Was sind unsre Ballette mit ihrer absichtsvollen Lüsternheit gegen dieses einzige Schauspiel? Hier entbrennt eine Seele, deren Drange nichts Geringeres als das Ganze: Fuß, Hand, Leib, Stimme, genügen kann, zu einem lebendigen Kunstwerke, und spricht das aus, wozu der armen, stummen, gefesselten Natur ewig die Organe mangeln! Wie danke ich Ihnen, mein Freund, für solchen Anblick!«

Die Bewegungen Flämmchens waren langsamer geworden, die Kränze entfielen ihren Händen, sie sank mit dem Ausdrucke einer angenehmen Ermattung auf einen Stein und schien einzuschlummern. Die Alte kam zwischen den Klippen hervor. »So ruht sie nun, und läßt mit sich machen, was man will«, sagte sie. »Wenn ich sie auf ihre Füße stelle, so geht sie auch, von mir gestützt, und weiß dennoch von nichts.«

»Kommen Sie«, sagte der Arzt zum Domherrn. »Es ist in der Tat kühl, und ich spreche heute nicht im Scherz, sondern im Ernst von Erkältungen.« –»Lassen Sie mich bei dem schönen Kinde noch einen Augenblick allein«, versetzte der Domherr.[246] »Ich kann mich an ihr nicht satt sehn, und werde sie in die Hütte nachbringen.«

Der Arzt stieg mit der Alten die Klippen hinunter. Unten begegnete ihnen ein Mensch, der sich verirrt zu haben schien, denn er fragte ängstlich und eilig nach dem Wege, der auf den Felsen führe. Erst nachdem er zurechtgewiesen und vorbei war, erkannte der Arzt in ihm den Bedienten des Domherrn.

Unten in der Hütte kündigte er der Alten an, daß er Flämmchen wahrscheinlich binnen kurzem von ihr nehmen werde. Auf dieses Wort stand sie wie versteinert, und sah ihn mit starren Augen an. Er redete ihr zu, und wollte sie durch die Nachricht, daß er das Geld, welches er für das Mädchen ihr gegeben, auch nach deren Entfernung noch eine Zeitlang fortzahlen werde, beschwichtigen. Sie aber unterbrach ihn, und rief mit einem herzzerreißenden Tone: »Nehmen Sie mir das Kind nicht!«

»Was soll sie ferner bei dir?« versetzte er. »Überhaupt, wie kommt es, daß du solchen Anteil an dem unbekannten Mädchen nimmst?«

»Unbekannt!« rief die Alte. »Ach, sie ist mir nur zu wohl bekannt! O mein Herr, lassen Sie mir das Kind! Es wehete ein Sturm, und verwehete die Geschlechter der Erde, man schlief ein unter blühenden Mandelbäumen und erwachte im öden, sandigen Blachfeld. Wißt Ihr, was es heißt, im Grabe gelegen haben, und wieder aufwachen? O ich könnte Euch Dinge erzählen, vor denen Ihr erschrecken würdet! Aber durch Nacht und Tod und Finsternis geht der Weg des Fleisches, und es fügt sich alles wieder zusammen, was zueinander gehörte.«

Er drang in sie, ihm diese dunkeln Reden zu erklären. Sie antwortete hierauf etwas in der fremden Sprache, welche er schon draußen von ihr vernommen hatte, und sagte dann: »Wollt Ihr, daß ich mein Kleinod hinwerfe, daß Ihr darauf tretet und es zerstört? Ich glaube daran, damit gut; meinen Glauben will ich behalten!«

Sie legte den Finger auf den Mund, dann ging sie umher, bewegte die Arme, als wollte sie ein Kind in den Schlaf schaukeln, und summte dazu ein Wiegenlied. Plötzlich fuhr sie[247] empor, rief heftig: »Was ist das? Wo bleibt sie?« und eilte aus der Hütte.

Verdrießlich über das lange Ausbleiben des Domherrn ging der Arzt in dem düstern, kleinen Raume hin und her, und erwog bei sich, ob es nicht besser sei, alle diese Abenteuer sich selbst zu überlassen, als er von außen einen gellenden Schrei vernahm, und die Alte in die Stube stürzte. »Verruchte! Treulose! Ungeheuer!« schrie sie. »Betrügen wolltet Ihr mich! Das Feuer des Himmels über Euer schändliches Haupt!«

Die entblößten Brüste, das flatternde, schwarze Haar gaben ihr das Ansehn einer Furie. »Besinne dich!« rief der Arzt, und faßte ihren Arm. »Was ist geschehn?«

»Der Bösewicht hat sie geraubt! Ach, ich unglückseliges Weib!« erwiderte sie jammernd.

Bestürzt klomm der Arzt die Felsen empor. Es war richtig. Niemand war auf der Platte zu sehn. Etwas Weißes flatterte zwischen den Steinen. Es war ein beschriebnes Blatt. Er gab sich Mühe, es zu lesen, was aber selbst in dem hellen Mondscheine nicht gelingen wollte. Von unten hörte er die Klagen der Alten, die schauerlich durch die Nacht tönten. Mit Mühe arbeitete er sich auf den beschwerlichen Pfaden nach dem Orte zurück, wo auf gebahnter Straße der Wagen des Domherrn stehngeblieben war. Er war verschwunden. Als er sein Ohr an den Boden legte, meinte er, in weiter Ferne das Geräusch der fortrollenden Räder zu vernehmen.

Er mußte sich zur Rückkehr entschließen, und dem kommenden Tage überlassen, was weiter zu tun sei. Als er nach mehreren Stunden ermüdet heimgekommen war, hörte er noch von dem Bedienten zur Vermehrung seiner üblen Laune, daß spät abends Hermann wieder im Schlosse eingetroffen sei. Er las das Blatt. Es enthielt nur wenige Zeilen, wodurch der Domherr ihm bekanntmachte, daß er das Mädchen, welches ihm zur Erziehung bestimmt sei, mit sich nehme, und alles zwischen ihnen Verabredete ausführen werde. Hinzugefügt war die lakonische Bitte, den übereilten Abschied zu entschuldigen, und bei der Herzogin entschuldigen zu helfen.[248]

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 243-249.
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